Islamismus-Experte Peter Neumann forscht nach den Ursachen

Die Faszination des Radikalismus

Seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 ist der Islamismus ins Fadenkreuz der Öffentlichkeit geraten. Was lässt junge Muslime, zum Teil aus der zweiten und dritten Einwanderer-Generation, zu Selbstmord-Attentätern werden? Auch immer mehr Konvertiten scheint die radikalisierte, politische Form der muslimischen Religion anzusprechen.

 (DR)

Seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 ist der Islamismus ins Fadenkreuz der Öffentlichkeit geraten. Was lässt junge Muslime, zum Teil aus der zweiten und dritten Einwanderer-Generation, zu Selbstmord-Attentätern werden? Auch immer mehr Konvertiten scheint die radikalisierte, politische Form der muslimischen Religion anzusprechen. Der Islamismus-Experte Peter Neumann, Leiter der Abteilung für Verteidigungsstudien am King's College der Universität London, sprach darüber mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) am Mittwoch in Bonn.

Birgt die muslimische Religion ein Intergrationshindernis?

Neumann: Im Prinzip nicht. Einfluss hat jedoch die Bedeutung des Islam in den Heimatländern der Einwanderer. Untersuchungen haben ergeben, dass muslimische Immigranten aus eher säkularisierten Staaten wie dem Kosovo, Albanien oder auch aus der Türkei weniger anfällig sind für Radikalisierung als jene aus stark religiös geprägten arabischen Staaten oder Pakistan.

Welche Rolle spielt die religiöse Prägung im Elternhaus?

Neumann: Viele junge Muslime können mit dem traditionellen Islam ihrer Eltern nicht mehr viel anfangen. Sie empfinden ihn als langweilig. Die Frömmigkeits-Praxis im Elternhaus stößt junge, frustierte Muslime eher ab. Auf sie übt die radikalisierte Form eine viel größere Faszination aus: Da wird von Kampf, Action und Dschihad gesprochen. Zudem ist die radikale Ideologie stark am Hier und Jetzt orientiert. Es geht kaum noch um Gebet und Frömmigkeit, sondern vordergründig um Politik.

Wer ist denn besonders anfällig für den radikalen Islamismus?

Neumann: Als erstes sind da die schlecht integrierten Einwanderer, die sich in der neuen Gesellschaft völlig verloren vorkommen und nicht Fuß fassen. Eine zweite große Gruppe bilden die Einwandererkinder der zweiten und dritten Generation, die plötzlich das Gefühl haben, zwischen zwei Welten zu leben: Von der Kultur ihrer Heimatländer wissen sie nahezu nichts, und in der westlichen Gesellschaft, in der sie aufgewachsen sind, fühlen sie sich nicht akzeptiert, als Ausländer diskriminiert.

Und was bietet ihnen der Islam in dieser Situation?

Neumann: Er dient als eine Art Heimatersatz. Die jungen Muslime finden in dieser religiösen Ideologie eine Form von Identität.
Sie sehen sich als Teil einer islamischen Nation. Ihre Staatsangehörigkeit ist quasi irrelevant, ihr Pass lediglich ein Reisedokument. Die Islamisten bieten den Frustierten eine simple, vermeintlich alles erklärende Antwort für ihre Situation an: "Der Westen und die Juden haben sich gegen die Muslime verschworen und unterdrücken sie - deshalb kriegst du keinen Job, hast keinen Erfolg, kein Geld, keine Frau. Jetzt wehr dich!" Es wird suggeriert, dass die Muslime rein defensiv handeln, wenn sie radikal gegen diese "Weltverschwörung" vorgehen und dem Zeitalter der Unterdrückung damit das Ende bereiten. Die Rekrutierung läuft im übrigen nach ganz ähnlichen Mechanismen wie bei Sekten.

Was ist mit den Konvertiten? Sie sind immer häufiger unter den islamistischen Attentätern vertreten.

Neumann: Die Konvertiten bilden die dritte Gruppe der "Radikalismus-Anfälligen". Das ist ein neues Phänomen, denn bislang waren die Muslime wenig erfolgreich, wenn es darum ging, Andersgläubige für den Islam zu begeistern. Aber die Quote der Menschen, die zum muslimischen Glauben übertreten, hat im Westen deutlich zugenommen. Gewiss spielt auch die große Medienpräsenz des Islam seit den Anschlägen vom 11. September 2001 dabei eine Rolle. In Großbritannien wurde beobachtet, dass ganze Straßenbanden von Jugendlichen konvertierten. Der Grund: "Islam ist cool." Damit kann man heutzutage noch Autoritäten schocken.

Aber der Aspekt Coolness trifft wohl weniger auf diejenigen zu, die später zu Selbstmord-Attentätern werden.

Neumann: Das stimmt. Diese Gruppe taucht viel stärker in die Ideologie ein, meist auch auf einer Identitätssuche. Diese Konvertiten werden sehr gezielt von Terrorgruppen für Anschläge ausgesucht. Denn die neuen "Glaubensbrüder" sind aus zweierlei Gründen wertvoll: Erstens gelten sie als 120-prozentig der neuen Religion verschrieben und besonders zugänglich für eine sehr strenge, radikale Auslegung. Zweitens können blonde, blauäugige, soll heißen westlich aussehende Islamisten leichter untertauchen und stehen nicht automatisch unter Verdacht.

Die Attentäter der Anschläge seit New York entstammen unterschiedlichsten Milieus und Bildungsschichten. Gibt es etwas Verbindendes, das Auslöser ihrer Radikalisierung war?

Neumann: Allen gemeinsam ist ein Bruch in der Biographie, eine persönliche Krise. Diese muss gar nicht mal politisch motiviert sein. Beispielsweise bei dem Mann, der 2004 den niederländischen Regiesseur Theo van Gogh wegen dessen islamkritischem Film erschoss, führte der Tod der eigenen Mutter zur religiösen Neuorientierung. Identitätskrisen, Frustation und das Gefühl von Verlorenheit sind Faktoren, die eine Radikalisierung befördern können, aber natürlich nicht zwangsläufig Auslöser sind.
Hinzukommen muss dann noch die Einflussnahme islamistischer Ideologen, die sich die Schwäche und Krise der anderen zunutze machen.

Können Integrationsprojekte diesen Mechanismen überhaupt entgegenwirken?

Neumann: Je besser Einwanderer integriert sind, umso weniger sind sie anfällig für radikale Ideologien. Wenn in Job und Privatleben die Dinge gut laufen, greift auch nicht mehr das Erklärungsmuster der Islamisten: "Der Westen ist an deiner Misere schuld." Die Hemmschwelle, einen Terroranschlag auf die Berliner U-Bahn zu verüben, ist für jemanden, der sich völlig losgelöst von der deutschen Gesellschaft fühlt, wesentlich geringer. Erfolgreiche Integration ist aber nicht einfach per Gesetz zu bewerkstelligen.
Das ist ein komplexer gesellschaftlicher Prozess, der sicherlich ein bis zwei Generationen dauert. Es gibt keine schnelle Integration.

Interview: Karin Wollschläger (KNA)