Allensbach-Leiterin zur Rolle von Werten und Kirchen in Politik und Gesellschaft

"Der Politikstil ist heute sehr pragmatisch"

Die Sehnsucht nach Werten in der Gesellschaft schlägt sich nach Einschätzung der Geschäftsführerin des Instituts für Demoskopie Allensbach (IfD), Renate Köcher, nicht in der politischen Debatte nieder. Der Politikstil sei heute sehr pragmatisch, sagte sie am Dienstag in einem Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur
in Berlin. Mit Blick auf die Rolle der Kirchen meinte sie, es stelle sich die Frage, ob die Kirchen nicht zu sehr mit sich selbst beschäftigt seien, um das Bedürfnis nach Orientierung und die größere Offenheit für religiöse Themen tatsächlich aufzunehmen.

 (DR)

Frau Professor Köcher, in politischen Grundsatzreden, den Medien, auch auf dem Büchermarkt ist häufig die Rede von einer Rückbesinnung auf Werte oder zumindest einer Sehnsucht danach.
Inwiefern trifft das zu?

Köcher: Es gibt ein Bedürfnis nach Orientierung und eine wachsende Wertschätzung für Themen und Bereiche, die nicht schnelllebigen Moden unterworfen sind. Die Bedeutung der Familie und familiärer Verpflichtungen ist gewachsen; das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass der Leistungsfähigkeit des Sozialstaats heute weniger als früher vertraut wird und entsprechend viele die Frage beschäftigt, was ihnen in unsicheren Zeiten Sicherheit und Geborgenheit geben kann, auf wessen Solidarität Verlass ist. Auch religiöse Themen treffen zur Zeit auf größeres Interesse als noch vor zehn Jahren.

Hat das auch Auswirkungen auf die grundsätzliche Bewertung politischen Handelns durch die Wählerinnen und Wähler?

Köcher: Der Politikstil ist heute sehr pragmatisch, und Maßnahmen werden auch überwiegend pragmatisch begründet. Wertedebatten werden eigentlich kaum geführt. Bei einer pragmatischen Politik beurteilen die Bürger in erster Linie die Ergebnisse.

Muss sich die Politik, vielleicht auch die gesamte Gesellschaft, stärker mit der Werteorientierung auseinander setzen, um im viel beschworenen Dialog der Kulturen bestehen zu können?

Köcher: Die Meinungsverschiedenheiten und Kontroversen zwischen den Kulturen sind Wertedebatten: um individuelle Freiheit und die Rolle des Staates, um die Stellung der Frau, die Achtung von Andersdenkenden und Minderheiten, die Zulässigkeit von Gewalt.
Genauso lässt sich jedoch Politik im Innern nur in einem Wertekoordinatensystem entwickeln, auch wenn dies heute relativ wenig thematisiert wird. Die Umgestaltung des Sozialstaats bedeutet immer auch eine Werteentscheidung, genauso wie viele familienpolitische Maßnahmen oder viele steuerpolitische Entscheidungen.

Welche Rolle spielen dabei die Kirchen als die in Deutschland etablierten großen Religionsgemeinschaften?

Köcher: Die Frage ist, ob die Kirchen nicht zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind, um das Bedürfnis nach Orientierung und die größere Offenheit für religiöse Themen aufzunehmen. Die gesunkenen Kirchensteuereinnahmen verlangen den Kirchen viele Umstrukturierungen im Innern ab, die ihre Aufmerksamkeit und Kräfte in beträchtlichem Maße binden.

Die CDU formuliert so deutlich wie nie die Einbindung von Andersgläubigen oder Atheisten. Zugleich will die SPD das christliche Menschenbild wohl künftig auch bei den Quellen der Sozialdemokratie nennen. Welche Gründe sehen Sie dafür?

Köcher: Die Bevölkerungsstruktur ist weltanschaulich und in ihrer religiösen Orientierung heute wesentlich heterogener als früher.
Spätestens seit der Wiedervereinigung ist der Anteil der Bevölkerung, der konfessionslos ist und sich teilweise auch als überzeugt atheistisch beschreibt, groß. Der Anteil der Konfessionslosen macht heute in Westdeutschland 20 Prozent, in Ostdeutschland 72 Prozent aus. In Westdeutschland beschreiben sich 6 Prozent als überzeugte Atheisten, in Ostdeutschland 23 Prozent. Gleichzeitig ist der Anteil der in Deutschland lebenden Muslime in den letzten 15 Jahren steil angestiegen. Diese Entwicklungen müssen natürlich auch von Parteiprogrammen berücksichtigt werden, gerade auch bei einer Partei, die sich in ihrem Namen zu den christlichen Wurzeln bekennt.

Interview: Christoph Strack (KNA)