Vor 100 Jahren zogen Wassily Kandinsky und Gabriele Münter nach Murnau

Die Wiege des "Blauen Reiter"

In einem einfachen Landhaus im oberbayerischen Murnau wurde Anfang des 20. Jahrhunderts Kunstgeschichte geschrieben. Am 21. August 1909 - kaufte Gabriele Münter in dem kleinen Ort am Staffelsee ein Haus, um dort mit ihrem damaligen Lebensgefährten, dem russischen Maler Wassily Kandinsky, die Sommermonate zu verbringen. Die folgenden sechs Jahre im "Münterhaus", wie das Gebäude heute genannt wird, haben die abstrakte Malerei nachhaltig geprägt.

Autor/in:
Christiane Ried
 (DR)

Kandinsky habe in Murnau den Schritt vom "bloßen Abmalen der Natur hin zum Abstrakten" vollzogen, fasst Helmut Friedel, Direktor des Münchner Lenbachhauses, das zahlreiche Kandinsky-Werke beherbergt, die Murnauer Schaffenszeit des Malers knapp zusammen. In Murnau leitet der aus Moskau stammende Kandinsky damit seine Phase der heute weltberühmten "Improvisationen" und "Kompositionen" ein.

Auch Gabriele Münter gelingt in Murnau der künstlerische Richtungswechsel. "Ich habe da nach kurzer Zeit der Qual einen großen Sprung gemacht - vom Naturabmalen - mehr oder weniger impressionistisch - zum Fühlen eines Inhaltes - zum abstrahieren - zum Geben eines Extrakts", sagt sie später über diese Zeit.

Religiöse Volkskunst und regionales Kunsthandwerk
Das "Russenhaus", wie die Murnauer das Landhaus damals ein wenig abschätzig nennen, richten sich Kandinsky und Münter entsprechend für ein Künstlerpaar ein. "Sie bemalen die Möbel nach schlichten Vorlagen und schmücken Wände und Tische mit religiöser Volkskunst und regionalem Kunsthandwerk", heißt es im Museumsführer "Das Münterhaus in Murnau".

Schnell findet das Paar Gefallen an bayerischen Traditionen und volkstümlicher Kunst. Sie entdecken die sogenannte Hinterglasmalerei für sich. Sonntags zieht Kandinsky gern mal Lederhosen an, um auch die Sympathien der Einheimischen zu gewinnen, so Friedel. Im bäuerlichen Murnau bleibe der Russe aber ein Fremder.

Durch Kandinskys Kontakte kommen immer mehr Künstler nach Murnau. 1909, noch vor dem Kauf des Münterhauses, gründet Kandinsky unter anderem mit Gabriele Münter, Alexej von Jawlensky (1865-1941) und Marianne von Werefkin (1860-1938) die expressionistische "Neue Künstlervereinigung München" (NKVM), die Kunstausstellungen organisiert und der später auch Franz Marc (1880-1916) beitritt.

Bruch mit Kandinsky 1911
Nach mehreren künstlerischen Differenzen kommt es 1911 dann zum Bruch Kandinskys mit der NKVM. Die Vereinigung lehnt seine fast vollständig abstrakte Komposition V für ihre dritte Ausstellung ab. Zu groß, so das fadenscheinige Urteil.

Kandinsky, Münter und Marc treten aus der NKVM aus und organisieren im Dezember 1911 die Gegenausstellung "Erste Ausstellung der Redaktion 'Blauer Reiter'" mit Werken der Mitglieder sowie von Robert Delaunay, Elisabeth Epstein, Henri Rousseau und Albert Bloch. Später geht die Ausstellung auf Tournee und wird weltbekannt. Kurz zuvor haben Kandinsky und Marc bereits den vielbeachteten Kunst-Almanach "Der Blaue Reiter" mit Hauptredaktionssitz Murnau herausgebracht.

Der Erste Weltkrieg zwingt Kandinsky 1914, Deutschland zu verlassen. Damit endet auch die Beziehung zu Gabriele Münter, die er 1916 zum letzten Mal in Stockholm sieht. Das Murnauer Landhaus verkauft Münter trotz der Trennung aber nicht. Ab 1914 vermietet sie es an Freunde, in den 1930er Jahren zieht sie wieder selbst dort ein. Ein Großteil des Frühwerks von Kandinsky lagert sie über Jahrzehnte im Keller und übergibt es später der Stadt München.

Vor rund zehn Jahren wurde das Münterhaus komplett saniert und mithilfe zahlreicher Fotos wieder in den Zustand von 1914 versetzt. Seitdem ist das Münterhaus in der Kottmüllerallee als Ganzes für die Öffentlichkeit zugänglich. Es war der große Wunsch Münters, ihr Haus in eine Gedenkstätte zu verwandeln - in Erinnerung an ihre und an Kandinskys Kunst.