Auch für die Telefonseelsorge ist die Zeit "zwischen den Jahren" eine besondere

Von enttäuschten Erwartungen und Dankbarkeit

Annelie Bracke weiß nur zu gut, dass gerade Weihnachten für viele Menschen alles andere als ein Fest der Freude ist. Sie leitet die Katholische Telefonseelsorge Köln. Im domradio-Interview spricht sie über verzweifelte und berührende Gespräche und die "besondere Atmosphäre" am Ende des Jahres.

 (DR)

domradio: Was unterscheidet die Anrufe "zwischen den Jahren" von den übrigen im Jahr?
Bracke: Vor Weihnachten, direkt davor, und an den Weihnachtstagen selbst und danach haben wir schon häufiger Anrufe, bei denen es um Weihnachten und familiäre Themen, die damit zusammen hängen, geht. An Weihnachten fragt sich ja, glaube ich, jeder, wo gehöre ich hin, mit wem bin ich zusammen, da geht man seltener, auch wenn es das heute manchmal gibt, auf Feten, sondern man sucht so die Nahestehenden. Und vor Weihnachten beschäftigt die Leute oft: Mit wem werde ich zusammen sein? Wie wird es sein? Wird es Krach geben, wie vielleicht das Jahr über auch? Besucht mein Sohn mich oder meine Tochter? Oder wie ist es mit getrennt lebenden Ehepaaren, bei wem - Vater oder Mutter - sind die Kinder dann an Weihnachten? Und wird alles friedlich verlaufen? Das sind so die Fragen. An Heiligabend selber und auch an den Tagen danach - aber besonders an dem Abend - gibt es schon oft auch Anrufe von Menschen, die alleine geblieben sind und sich alleine fühlen.  
Manche sind aber auch bewusst alleine geblieben, weil sie in dem Jahr einen Partner verloren haben, durch eine Trennung oder durch den Tod zum Beispiel. Und an dem Abend auch Raum und Zeit haben wollen für ihre Gefühle, die dann auch manchmal traurig sind. Und dann rufen sie an und möchten eben doch mal mit jemand mal darüber sprechen. Und spätestens ab der Nacht vom Heiligen Abend und auch an allen folgenden Tagen dann rufen Menschen an, die sind mit anderen zusammen gewesen, mit Familie, mit Angehörigen, es gab hohe Erwartungen, es gab natürlich den Wunsch nach friedlichem Zusammensein, und dann knallt es. Dann gibt's Enttäuschung, Tränen, Schreierei, Gewalt manchmal. Das ist besonders dann der Fall, wenn eigentlich die Beziehungen nicht so gut sind, und wenn man vielleicht besser sagen würde: Feiert, bleibt nicht zusammen. Denn wenn die Beziehungen das ganze Jahr über schwierig sind, dann wird es am Heiligen Abend auch nicht unbedingt besser. Und weil die Erwartungen so hoch sind und die Gefühlslage sehr hoch ist. Es ist alles sehr emotional und dann knallt es auch mal eher.

domradio: Können Sie sich an bestimmte Gespräche erinnern?
Bracke: Ich kann Beispiele nennen, die ich dann aber dann abwandeln würde. Bei uns kommt es ja auf Verschwiegenheit an. Ich erinnere mich an einen Anruf, der so ähnlich war wie: Dass ein Mann anrief, der an Heiligabend alleine war, weil ihn einige Wochen vorher seine Frau gemeinsam mit dem gemeinsamen Sohn verlassen hatte. Er war jetzt am Heiligen Abend ganz alleine, er hatte zwar, wie er sagte, Einladungen von Freunden bekommen, da hätte er dabei sein können, die wussten um seine Situation, er hatte das aber abgelehnt., weil er an dem Abend einerseits auch Raum haben wollte für seine Gefühle. Und er hatte, glaube ich, Sorge, seinen Freunden damit auf die Nerven zu gehen, dass die das vielleicht nicht mehr hören können. Und er war aber sehr befangen in dieser Trauer. Und er wartete doch ein bisschen doch, ob seine Frau mit dem Kind doch vielleicht noch vorbeikäme am Heiligabend. Und dann ist die aber nicht gekommen. Und er war natürlich umso enttäuschter und der ganze Schmerz des Verlassenseins war dann wieder da, und am Heiligabend eben noch mal besonders, weil  dann auch Alltag und Beruf und Sonstiges nicht so ablenken. Und weil man sich da besonders wünscht, mit seinen Lieben zusammen zu sein. Und dann haben wir eben darüber gesprochen. Wir haben auch über die Beziehung gesprochen, wie die war, wie sie sich entwickelt hatte, warum er das nicht mitbekommen hat, dass die dabei war sich zu trennen. Welche Hoffnungen er noch hat. Und wie er jetzt über die nächste Zeit kommen kann.
Ich ‚erinnere mich' an einen anderen Anruf. Da ging es eben ausdrücklich um ein geistig-religiöses Thema, eine Frau rief an, die sagte, sie sei arbeitslos, sie habe noch eine Wohnung, aber hochverschuldet. Sie habe nichts Gutes anzuziehen, sie habe wenig soziale Kontakte. Und sie hatte den Wunsch am Heiligabend, an dem sie auch anrief, in die Christmette in ihrer Nähe zu gehen. Wo sie aber seit Jahren nicht mehr war und auch niemanden mehr kannte. Und sie wollte das gerne, schämte sich aber, da hinzugehen und hatte große Ängste, weil sie sagte: Ich habe keine guten Sachen anzuziehen, ich kenne keinen, die Leute sehe mir vielleicht an, dass ich trinke, vielleicht rieche ich auch unangenehm. Ich traue mich über diese Schwelle nicht rüber, möchte es aber gerne. Sie hatte eine große Sehnsucht. Und ich habe dann im Gespräch versucht, ihr Mut zu machen, dass sie ein Recht darauf hat und dass sie eingeladen hat dort zu sein, und ihr auch Mut gemacht das zu tun. Habe aber auch sehr pragmatisch mit ihr überlegt, was sie noch beitragen kann, es dann gut geht, zum Beispiel dass sie dann vorher duscht.

domradio: Welche Rolle spielt für die Anrufer, dass sie bei einem Angebot der Katholischen Kirche anrufen?
Bracke: Die wissen, dass sie ein christliches Angebot in Anspruch nehmen. Und das wird nicht immer ausdrücklich thematisiert, aber in Gesprächen fließt es oft ein. Bei dem Anrufer, von dem ich eben sprach, war das zum Beispiel so, dass ich ihn am Ende gefragt hatte, wie er denn jetzt den Rest des Abends verbringen würde, weil ich auch ein bisschen Sorge um ihn hatte. Und er sagte, dass er nach langer Zeit wieder in einen Gottesdienst gehen würde, dass er jetzt die Christmette besuchen möchte, weil ihm das dann doch Halt und Zuversicht geben könnte, oder er hoffte das. Und über solche Themen sprechen Anrufende bei uns vielleicht dann etwas leichter als bei anderen Angeboten, weil sie wissen, dass sie das eben auch sagen können.

domradio: Sie sind hauptamtlich für die Telefonseelsorge in Köln verantwortlich - und damit für ein Team von rund 50 Ehrenamtlichen. Ist es ein Problem, an den Weihnachtstagen Ihr Rund-um-die-Uhr-Angebot zu besetzen?
Bracke: Es gibt natürlich Ehrenamtliche, die an den Weihnachtstagen nicht gut Dienst machen können und machen dann an anderen Zeiten, weil die Familie haben, kleine Kinder oder weil sie Angehörige suchen, die weiter weg sind und dann gar nicht hier sind. Aber wir haben einige Ehrenamtliche, die immer wieder an Heiligabend Dienst machen oder an den Weihnachtstagen und das auch sehr gerne machen. Es ist an Heiligabend und an den Weihnachtstagen insgesamt bei uns im Dienst eine besondere Atmosphäre. Das geht mir auch selber so, wenn ich dann da bin. Also einmal hat man das Gefühl: Ich mache jetzt Menschen ein Geschenk mit meinem Hier sein, irgendwie kommt dieses Weihnachtsgefühl da auch noch mal auf.
Und es gibt oft sehr ernste und berührende Gespräche, einige Anrufende rufen auch an, um sich zu bedanken für Hilfen, die sie im Lauf des Jahres bekommen haben. Dann ist es auch so, dass wir unsere Räume auch schön schmücken, dass es kleine Päckchen auch für die Diensthabenden gibt, also wir machen's auch von der Stimmung her gut. Und ich glaube, man hat an den Tagen da das Gefühl, dass es wirklich Sinn macht da zu sein, und wenn man's familiär oder persönlich einrichten kann, dann kommen auch Ehrenamtliche gerne zum Dienst.

Das Gespräch führte Michael Borgers.