Auszüge aus dem Bericht der Jesuiten

Scham und Schande

Die Missbrauchsbeauftragte des Jesuitenordens, Ursula Raue, hat am Donnerstag in München ihren Abschlussbericht vorgestellt. Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) dokumentiert zentrale Aussagen aus ihrem Bericht sowie aus der Stellungnahme, die der Provinzial der deutschen Jesuiten, Pater Stefan Dartmann, abgegeben hat.

 (DR)

Aus dem Bericht von Rechtsanwältin Raue:

(...) Insgesamt sind bei mir bisher 205 Meldungen eingegangen, die den Jesuitenorden betreffen und dazu über weitere 50 Eingänge, die andere - meist katholische - Einrichtungen betreffen. Betroffen sind von den Opfermeldungen das Canisius Kolleg in Berlin, das Kolleg Sankt Blasien, das Aloisiuskolleg in Bonn-Bad Godesberg, die Sankt-Ansgar-Schule in Hamburg, sowie Jugendeinrichtungen in Hannover und Göttingen und das heute nicht mehr von Jesuiten geleitete Immaculata Kolleg in Büren/Westfalen. (...)

Inzwischen erstrecken sich die Untersuchungen auf zur Zeit 12 Patres
- 6 davon verstorben - und 2 weitere Personen, denen von mehr als einer Person Missbrauch oder grobe Gewalttätigkeit oder beides oder auch Mitwissen vorgeworfen wird. Dazu kommen noch 32 Patres oder weltliche Lehrer und Erzieher des Ordens, die bisher nur von einem Opfer genannt wurden. (...)

Erschütterung begleitet daher das oft schambesetzte Unverständnis (der Opfer) darüber, wie sie selbst als Kinder das Zugefügte haben geschehen lassen können. Vielfältig ist es ein Gefühl der Verzweiflung, des Alleinseins, des Allein-gelassen-wordenseins von Schule und Eltern und von Wut, aufgrund eines diffusen Gefühls der Mitschuld auch gegen sich selbst.

Oftmals mussten Opfer erleben, wie ihnen aufgrund mangelnder Gefügigkeit beim Missbrauch oder um Schweigen zu erzwingen, ein Vergehen angelastet bzw. zugeschoben wurde. Im Verbund von Täter, Lehrern und Eltern wurden sie so vom Opfer zum Täter gestempelt.
(...)

Die betroffenen Ordenseinrichtungen präsentierten sich, wie aus den Ermittlungen ersichtlich als ein System, das "Täterkarrieren" wenn nicht beförderte, so doch nicht hinreichend behinderte (...)

Zu fragen ist, warum der Orden nach außen hin so unbekümmert mit stichhaltigen Informationen über häufige Vorfälle sexuellen Missbrauchs in seinen Einrichtungen umgegangen ist. Der wesentliche Grund scheint darin zu liegen, dass die Opferperspektive im Orden über all die Jahre nicht eingenommen wurde. Nirgends ist die Rede von Fürsorge oder Verantwortung für die Opfer, von Wahrnehmung für das aus dem Missbrauch entspringende Leid der anbefohlenen Schützlinge.

Die verfügbaren Zeugnisse belegen, wie vordringlich die Fürsorge für die Mitbrüder und der Schutz des Rufes der Einrichtung und des Ordens waren. So richtete sich die Aufmerksamkeit nur nach innen:
keinen Schatten auf die Institution fallen zu lassen. Falsche Loyalität gegenüber dem Mitbruder erforderten auch für Mitwisser aktives Wegschauen und nicht wissen wollen. Für notwendig erachtete Maßnahmen erfolgten durch geräuschlose Täterverschiebung und einem Minimum an Kommunikation durch die jeweils abgebende, wissende Einrichtung.

Der Eindruck drängt sich auf, dass sich die kirchliche Einrichtung mit ihren eigenen, spirituellen Erziehungs- und Bildungsidealen im quasi geschlossenen Raum glaubte genügen zu können. Die Verantwortlichen vermochten es jedoch nicht, mit ihrem und der Umwelt vermittelten Anspruch transparent und offen umzugehen.

  

Aus der Stellungnahme von Provinzial Stefan Dartmann:

(...)

Mit allein über 200 Opfermeldungen, die den Jesuitenorden betreffen, ist ein Skandal deutlich geworden, dessen Umfang im Januar kaum zu erahnen war. Wenn deshalb der Aufklärungsprozess seine Zeit gebraucht hat und in einigen Aspekten auch noch weitergehen muss (...), so bitte ich Opfer und Öffentlichkeit dafür um Nachsicht. Die Opfer haben ein anderes Zeitempfinden als wir im Orden: Auch das mussten wir in den letzten Monaten lernen.

Seitens des Ordens begann bei uns im Januar ein schmerzhafter Prozess, der tief in die Beziehung der Mitbrüder untereinander hineingreift. So wie die ältere Generation sich schwer tut, den Blick und die Standards der heutigen Zeit auf "die Zeit damals" nachzuvollziehen, so braucht die junge Generation Zeit, um zu begreifen, dass sie in einer institutionellen Kontinuität steht, zu der sie sich nun in Kenntnis dieser Schattenseiten der eigenen Ordensgeschichte neu bekennen muss. (...)

Bevor ich zum Inhalt des Berichtes komme, möchte ich mich bei Ihnen, Frau Raue, herzlich dafür bedanken, dass Sie sich an diese Mammut-Aufgabe gewagt haben. Wahrlich keine leichte Aufgabe, zumal Ihre Rolle, so wie sie in den Richtlinien der Deutschen Ordensoberenkonferenz (DOK) beschrieben wird, kaum eine Parallele in unserer zivilen Gesellschaft haben dürfte. Im Auftrag des Ordens, aber eben doch extern, mit Blick auf die Opfer, aber dann doch nicht als deren Rechtsvertretung - die Erwartungen der verschiedenen Seiten waren nur schwer miteinander zu vereinen. Meines Erachtens müsste diese objektive Schwierigkeit bei der von den Bischöfen bzw.
Ordensoberen in Angriff genommenen Überarbeitung der Richtlinien sorgsam reflektiert werden. (...)

Die Ergebnisse der Untersuchung von Frau Raue lassen eine skandalöse Wirklichkeit zu Tage treten, die unserem Orden zu Scham und Schande gereicht. (...) Die Menschen spüren instinktiv, dass der moralische Anspruch, mit dem kirchliche Institutionen wie unser Orden auftreten, im Kern untergraben wird von dem, was in den letzten Monaten zutage getreten ist.(...)

Die von ihr (Raue) angeführten Gründe mögen zwar nicht für das Handeln sämtlicher Verantwortlicher der damaligen Zeit gelten, aber im Kern beziehen sie sich auf Geisteshaltungen, die nicht nur bei einzelnen, sondern unbestreitbar in weiten Kreisen des Ordens verbreitet waren und vielleicht auch noch sind. Dazu gehören die nicht vorhandener Opferperspektive, die primäre Sorge um den Ruf des Mitbruders bzw. der Ordenseinrichtung, wo der Missbrauch verübt wurde, das Nicht-wissen-wollen. (...)

Darüber hinaus sind wir Jesuiten in den letzten Monaten auf Fragen aufmerksam geworden, die die ordensinterne Kommunikation betreffen:
Der Provinzial etwa führt mindestens alle ein bis zwei Jahre ein Gespräch mit jedem Jesuiten seiner Provinz, bei dem dieser aufgefordert ist, seinem Oberen in aller Offenheit seine Lebens- und Arbeitssituation darzulegen. Wir nennen das die Gewissensrechenschaft. Auch werden immer wieder Berichte über einzelne Mitbrüder eingeholt, die sogenannten informationes. Für beides ist Vertraulichkeit unerlässlich. Doch müssen wir Jesuiten uns im Lichte der nun bekannt gewordenen Vorgänge neu überlegen, wie einerseits Vertraulichkeit gewährleistet und andererseits Vertuschen verhindert werden kann.(...)

Wir haben in den letzten Monaten viel lernen müssen, u.a. dass der Orden kein "geschlossener Raum" ohne Verantwortung und Rechenschaftspflicht nach außen sein darf und dass wir uns weniger um den guten Ruf der Institution kümmern dürfen als um das Wohl der Menschen, wie es eigentlich der Gründungsinspiration des Ordens entspricht. (...)

Als Provinzial bin bereit, im Namen des Ordens jedes Opfer persönlich um Entschuldigung zu bitten. (...) Wo ein persönliches Gespräch mit einem Vertreter des Ordens zur Aufarbeitung der Missbrauchsgeschichte gewünscht wird, ist das jederzeit möglich. Wo es angefragt wurde, sind Gesprächspartner vermittelt worden. (...) Was die Fragen der materiellen Anerkennung des zugefügten Leids angeht, sehe ich es als erste Aufgabe des Ordens, die Opfer darin zu unterstützen, die für sie notwendige Hilfe zu bekommen. Wo Opfer eine pauschale finanzielle Entschädigung fordern, wird der Orden dem Ergebnis der Beratungen des Runden Tisches der Bundesregierung aber nicht vorgreifen. (...)

Als Provinzial habe ich eine Verantwortung auch für die Mitbrüder, die beschuldigt werden bzw. schuldig geworden sind. Sie gehören zu uns und wir werden sie nicht aus unserer Gemeinschaft verstoßen. Der Schutz ihrer Personenrechte muß gewährleistet werden, bei Bedarf auch mit Hilfe von Anwälten. (...)

Was die Prävention angeht, ist festhalten, dass sich in den letzten Jahrzehnten und schon vor dem Aufdecken des Missbrauchsskandals vieles im Orden verändert hat, was etwa Ausbildung der jungen Jesuiten und Erziehungsmethoden betrifft. Damit Ordensleben gelingen kann, braucht es einen reifen und gesunden Umgang mit der eigenen Sexualität. Die Bedeutung des "affektiven Reifens" im Rahmen unserer Ordensausbildung ist schon vor Jahren erkannt worden. Mit Hilfe von Fachpsychologen, die von außerhalb des Ordens hinzugezogen werden, wird das Feld bereits vor dem Eintritt der Kandidaten ausgeleuchtet und findet auch während der Ausbildung genügend Aufmerksamkeit. Neue Präventionskonzepte für die Kollegien sind an allen drei Orten (Canisius-Kolleg, Kolleg St. Blasien, Aloisiuskolleg) in der Ausarbeitung. Dazu geben die Erfahrungen der Aufklärung der letzten Monate wichtige Impulse.