Verhaltensforscherin Goodall für Leben im Einklang mit Umwelt

Die Natur wiederentdecken

"Hermetisch abgeriegelt" von der Natur - so lebten die meisten Menschen heute. Die Verhaltensforscherin Jane Goodall kämpft gegen die Plünderung des Planeten. Viele Jahre lebte sie in den Wäldern Tansanias und studierte das Leben von Menschenaffen.

Autor/in:
Michael Loesl
 (DR)

Als junges Mädchen träumte sie manchmal davon, Märtyrerin zu werden, die trotz Qualen zu ihrem Glauben stand. Diese Tagträume, sagt sie rückblickend, seien ein Versuch gewesen, sich mit den Aggressionen und Leiden auseinanderzusetzen, die sie als Kind im England des Zweiten Weltkrieges erlebte. Sie seien aber auch lehrreich gewesen für ihren Mut, ihren Idealismus und ihr Vertrauen ins Leben.



Grande Dame der Verhaltensforschung

Dem Leben zugewandt, hat sie längst eine tatsächliche, wenngleich auch unbeabsichtigte Heldenrolle eingenommen. Heute ist sie 76 Jahre alt, Trägerin eines Verdienstordens der englischen Königin, Ehrendoktorin der Universitäten von Toronto und Liverpool, Kyoto-Preisträgerin und, viel wichtiger, die Grande Dame der Verhaltensforschung.



Kürzlich wurde ihr der "Bambi" für den Film "Jane"s Journey" überreicht, der die Lebensgeschichte der Frau mit dem großen Sendungsbewusstsein nachzeichnet. Gute zwei Kilometer Waldweg muss man zurücklegen, um das Hotel zu erreichen, in dem sie logiert. Goodall sucht die Abgeschiedenheit, weil sie trotz ihres stolzen Alters rund 300 Tage im Jahr unterwegs ist, Vorträge hält, an Diskussionsrunden teilnimmt und die Fortschritte der von ihr initiierten Kinder- und Jugendorganisation Roots & Shoots (Wurzeln und Sprösslinge) verfolgt - alles im Dienste ihrer Mission. Auf der befindet sie sich rastlos seit 1957.



Gegen das Plündern des Planeten

Schon damals, mit 23, empfand sie Verzweiflung über das Plündern des Planeten von Menschenhand. Im Gombe Stream National Park in Tansania, wo sie, von kurzen Unterbrechungen abgesehen, 40 Jahre lang blieb, zog sie in ihren Verhaltensbeobachtungen von Gruppen von Schimpansen Rückschlüsse auf das Verhalten von Vormenschen. Die überraschende Quintessenz ihrer Forschungen lautet heute, dass wir uns nicht länger auf das Verhalten unserer Vorfahren, der Primaten, berufen dürfen um Kriege, Aggressionen, Egos und unsere destruktiven Kräfte legitimieren zu können.



Goodall: Kollektiver Geist hinkt hinterher

"Wir Menschen haben außergewöhnliche Intellekte entwickelt. Wir sind in der Lage, Fragen zu stellen, Pläne zu schmieden und Dinge zu durchdenken. Warum bekriegen wir uns immer noch gegenseitig, wo wir doch alle, jeder Einzelne, jeden Tag aufs Neue die Wahl haben?" Weil unser kollektiver Geist letztlich unserer technologischen Errungenschaften hinterherhinkt? Als ob die Antwort klar wäre, lächelt sie lediglich sanft. Ihre Augen sind trotz ihrer Müdigkeit überaus aufmerksam und wirken einladend, warm.



Wenn sie sich einmal in die Augen ihres Gegenübers festgeschaut hat, lässt sie nicht mehr los und entfacht damit eine Wechselwirkung aus Faszination und Irritation. "Schimpansen sind die einzigen Lebewesen, die keine Aggressionen verspüren, wenn man ihnen lange in die Augen schaut. Für sie sind die Augen wie Fenster zur Persönlichkeit, die sie betrachten. Ich habe durch sie gelernt, dass ich mittels intensivem Blickkontakt Einblicke in die Charaktere und Seelen anderer Menschen bekomme."



Die Natur wiederentdecken

Trotz des Faszinosums Mensch ist ihr die moderne Zivilisation eher suspekt. "Ich möchte nicht in diesen Hotels sein, die fernab von allem Natürlichen versiegelt sind. So leben die meisten Leute ihr Leben - hermetisch abgeriegelt von anderen Menschen und von der Natur. Das führt zu vielen Problemen. Wer sich selbst erkennen will, muss die Natur wiederentdecken." Die war nicht immer gut zu ihr. Sie erlebte Überfälle auf ihr Lager in Gombe, Malaria-Infektionen, den Krebstod ihres Mannes, die Aids-Pandemie in Afrika, die sie nur zum Teil der Natur zuschreibt, das Töten von Schimpansenbabys durch Schimpansenmänner.



Trotzdem hat sie unbändiges Vertrauen in die Natur und die Kraft des menschlichen Geistes. "Als ich über Monate, manchmal Jahre alleine Schimpansen beobachtete, spürte ich eine Kraft zwischen Himmel und Erde, der sich mein Herz verbunden fühlte. Diese Kraft treibt mich noch immer an." Ein Zimmer im Haus ihrer Schwester in Bournemouth ist neben der Gewissheit, vom Leben reich mit Erkenntnissen beschenkt worden zu sein, alles, was sie besitzt.