Katholischer Erwachsenerkatechismus zum Thema Selbsttötung

Im Wortlaut

 (DR)

Selbsttötung (lateinisch: suicidium) als Akt, durch den sich ein Mensch das Leben nimmt, gibt es bei allen Völkern und zu allen Zeiten. Immer stellte sich die Frage, ob es sittlich erlaubt sein kann, um höherer Güter willen das Übel der Lebensvernichtung nicht nur hinzunehmen, sondern es durch Selbsttötung direkt zu verursachen. Ist Selbsttötung in jedem Fall ein ethisch abzulehnender Selbstmord? Sind wir nicht grundsätzlich berechtigt, freiwillig aus dem Leben zu gehen?

Heute mehren sich die Stimmen, die vom Recht auf den Tod und von Freiheit zum Tod sprechen. Sie sagen: Der Mensch ist das Wesen der Freiheit. Er gehört sich selbst und ist folglich auch berechtigt, über sich selbst zu verfügen und sein Leben zu vernichten, wenn er auf diese Weise einem Leben ohne Würde, Menschlichkeit und Freiheit zu entrinnen vermag. Ähnlich wie in der Antike für die Stoiker, die den Suizid verherrlichten, wird auch heute wieder die Auffassung vertreten, der Freitod sei als höchster Akt der Freiheit anzusehen; er sei ein Triumph der Freiheit über jede Fremdbestimmung. - Ähnlichen Argumenten begegnen wir auch, wenn gesagt wird: Man hat mich nicht gefragt, als ich zur Welt kam, ob ich leben wollte; so hat mich auch niemand zu fragen, ob und wie lange ich in der Welt bleiben will.

Andere dagegen halten es nicht für möglich, ein sittliches Recht auf Totalverfügung über das eigene Leben zu rechtfertigen. Sie sagen, wer meine, er bringe in der Selbsttötung die Freiheit zu höchster Vollendung, verkenne, daß er dadurch ja gerade die Freiheit an ihr Ende bringe. Ein ethisches Abwägungsurteil führe zu der Konsequenz, daß länger gelebte Freiheit im Vergleich zu vorzeitig vernichteter Freiheit den Vorzug verdiene.
Gegen das Recht auf Selbsttötung gibt es Argumente unterschiedlicher Art. Das Argument der Freiheit besagt, daß die bewußt gewollte Selbsttötung als Akt der freien Entscheidung die Freiheit vorzeitig an ihr Ende bringt und dadurch in letzter Konsequenz das Andauern gelebter Freiheit und Selbstannahme verweigert. Das Argument der Geschöpflichkeit besagt, daß derjenige, der sich selbst tötet, sich gegenüber Gott, dem wir unser Leben verdanken, verweigert und selbstmächtig die Zeit abbricht, die Gott ihm als Heilschance zugedacht hat. So ist die Verweigerung gelebter Freiheit zugleich eine Verweigerung Gott gegenüber.

Bewußte und freiwillige Selbsttötung, auch wenn sie aus hohen Motiven geschieht, ist sittlich nicht gerechtfertigt. Frei gewollte Selbsttötung, durch die jemand bewußt seine Autonomie dokumentieren will, ist ihrer ganzen Natur nach eine Absage an das Ja Gottes zum Menschen. Sie ist auch eine Verneinung der Liebe zu sich selbst, zum natürlichen Streben nach Leben und zur Verpflichtung der Gerechtigkeit und Liebe gegen den Nächsten und gegen die Gemeinschaft.

Unser christlicher Glaube stellt der Verherrlichung der freiwilligen Selbsttötung eine im Glauben begründete Sicht des Lebens gegenüber. Unser Glaube läßt uns darauf vertrauen, daß Gott uns in jeder Situation unseres Lebens wieder einholen kann, sei diese Situation durch eigene Schuld oder durch mißlungene Beziehungen zur Umwelt entstanden.

Die philosophische Diskussion über die Freiheit und über die sittliche Berechtigung, sich in freier Entscheidung das Leben zu nehmen, setzt voraus, daß diese Freiheitsentscheidung auch konkret möglich ist. Das theologische Bemühen um die Erhellung dieses Phänomens hat eine solche Möglichkeit nicht grundsätzlich ausgeschlossen. In der pastoralen Praxis wurde deshalb in früherer Zeit Menschen, die sich das Leben genommen hatten, die kirchliche Beisetzung verweigert. In das neue Rechtsbuch der Katholischen Kirche (CIC) ist diese Anordnung nicht mehr aufgenommen worden, weil sich nicht nachweisen läßt, ob jemand in der Selbsttötung wirklich ein letztes Nein zu sich selbst und zu Gott gesprochen hat und weil die Kirche zwar die Sünde des Selbstmordes verurteilt, nicht aber den Menschen, von dem nicht sicher ist, ob er wirklich ein Selbstmörder ist.

In dieser Einstellung nimmt die Kirche die Ergebnisse der neueren Suizidforschung auf. Diese hat empirisch nachgewiesen, daß der Suizid oft am Ende einer Entwicklung steht, die mit einer starken Einengung der seelischen Selbststeuerung verbunden ist und Ausdruck einer unbewältigten Lebenskrise bzw. eines geminderten Selbstwertgefühls ist. Die meisten Menschen, die einen Suizid begehen, vollziehen darin nicht einen Akt der Freiheit, sondern sie befinden sich in einem außergewöhnlichen Zustand, in dem alles auf den Suizid hindrängt. Deshalb darf jemandem, der sich das Leben genommen oder den Versuch dazu unternommen hat, nicht von vornherein die volle Verantwortung für sein Tun zugeschrieben werden. Vielfach ist der Versuch der Selbsttötung ein Appell an die Mitwelt und ein verzweifelter Ruf nach Zuwendung durch die Mitmenschen. Menschen, die selber keinen Ausweg mehr sehen, bedürfen unserer Hilfe und unseres Mitgehens, damit sie aus der Verzweiflung zu einer Neuorientierung ihres Lebens finden können.

Quelle: Katholischer Erwachsenerkatechismus, Zweiter Band - Leben aus dem Glauben. Herausgegeben von der Deutschen Bischofskonferenz (1995)