Belgien weiter in der Krise - Kirche hält sich zurück

Kein Land in Sicht - und keine zwei

In Belgiens Regierungskrise ist kein Land in Sicht - aber auch nicht zwei. Trotz aller Separatismuswünsche im nördlichen Landesteil Flandern, die einen Teil des Problems ausmachen. Am Montag ist es genau ein Jahr her, dass die durch Wahlpflicht zum Urnengang gezwungenen Belgier ihre Politiker vor eine offenbar unlösbare Aufgabe stellten: eine Regierung zu bilden.

Autor/in:
Christoph Lennert
 (DR)

Ministerpräsident Yves Leterme und seine Minister sind schon seit dem Scheitern seiner Koalition im April 2010 nur noch geschäftsführend im Amt. Seit den Wahlen ernennt König Albert II. immer neue Politiker zu Kundschaftern oder Vermittlern, um die Chancen für eine Regierungsbildung auszuloten. Nun ist der frankophone Sozialist Elio di Rupo dran - er wurde Mitte Mai mit dem Himmelfahrtskommando beauftragt. Ob es ihm gelingt, steht in den Sternen.



Belgiens Bürger fügen sich ohne größeres Aufbegehren. Zwar werden mal Parteibüros besetzt, wird auch demonstriert. Schon Ende Januar riefen 35.000 Menschen in Brüssel die Politiker auf, das endlose Patt zu überwinden und endlich eine Regierung zu bilden. Doch auch eher surreale Vorschläge wie der eines ungezügelten Bartwuchses bei Männern bis zu einer Regierungsbildung oder der eines Sexstreiks der Frauen blieben ohne die erwünschte Wirkung.



Ein Land im Wartestand

Eine geschäftsführende Regierung, die nur noch "affaires courantes", "lopende zaken", also die "laufenden Angelegenheiten", verwaltet. Beobachter meinen, die vermeintlich belgische Tugend des Kompromisseschließens habe nur so lange funktioniert, als ausreichend Geld dafür zur Verfügung gestanden habe - oder hemmungslos neue Schulden gemacht werden konnten.



Und die Kirche? Sie hält sich zurück. Als eine der wenigen Institutionen, die noch über Sprachgrenzen hinweg funktioniert, ist die Belgische Bischofskonferenz eigentlich ein Indiz dafür, dass Belgien als Staat lebensfähig sein könnte. Der Bischofskonferenz-Vorsitzende, Erzbischof Andre-Joseph Leonard, ein Frankophoner, spricht so gut Flämisch, wie sein Vorgänger, Kardinal Godfried Danneels, ein Flame, des Französischen mächtig ist. Doch offizielle Äußerungen zum Thema gibt es von den Bischöfen so gut wie nicht.



Einzig Leonard wagte sich zu Ostern ein wenig aus der Deckung. Gerade erst war die Kirche wieder mal in die Schlagzeilen geraten, als der wegen Missbrauchs zurückgetretene Bischof Roger Vangheluwe mit einem TV-Interview einen Sturm der Empörung auslöste. Da wandte sich der Brüsseler Erzbischof mit dem Hinweis an die Politiker, sein zweisprachiges Erzbistum sei doch ein gutes Beispiel, wie Toleranz und Respekt gelebt werden könnten und nachbarschaftliches Zusammenleben gelinge. Freilich verfügt Leonard über drei Weihbischöfe - je einen für den flämischen, den wallonischen und den Brüsseler Teil der Diözese.



"Frankophone Arroganz"

Schon zuvor hatte Leonard in einem Interview seine frankophonen Landsleute gemahnt, mehr Kompromissbereitschaft zu zeigen. Die Äußerung fand in der Öffentlichkeit praktisch keinen Widerhall. Als er jüngst abermals von "frankophoner Arroganz" sprach, stieß er im eigenen Lager auf Widerspruch - aber selbst in Flandern wurde seine Aussage nicht aufgegriffen. Der Erzbischof nahm schließlich Ende Mai an einem "Nationalen Gebetsabend" für Belgien in der Brüsseler Koekelberg-Basilika teil, zu dem auf Einladung neuer geistlicher Gemeinschaften rund 400 Besucher kamen. "Historische Widersprüche" müssten überwunden werden, sagte er da. "Heilung, Erinnerung und Verzeihen" seien die Leitworte, mit denen die Krise zu überwinden sei. Auch das blieb praktisch unkommentiert.



Ohnehin haben sich Belgiens Bischöfe aus der öffentlichen Debatte weitgehend zurückgezogen. Gab es früher Stellungnahmen zu Sterbehilfe, Asylrecht und anderen die Politik bewegenden Fragen, so schweigen die Kirchenführer jetzt. Offensichtlich hat der Missbrauchsskandal sie stark verunsichert. Bei Beobachtern entsteht der Eindruck, als wolle die Kirche vermeiden, durch pointierte Reaktionen zusätzliche mögliche Angriffsflächen zu schaffen.