50 Jahre Europäische Sozialcharta

Zähne zeigen, aber nicht zubeißen

Die Europäische Sozialcharta, die seit dem 18. Oktober 1961 von den Europarats-Staaten unterzeichnet werden konnte, bleibt auch 50 Jahre später ein Grundlagentext für die sozialen Werte in Europa. Von ihrer völligen Verwirklichung ist die Charta allerdings noch weit entfernt.

Autor/in:
Christoph Lennert
 (DR)

Rüge für Deutschland: Im Dezember 2010 veröffentlichte der Europarat einen Bericht, in dem das deutsche Arbeitsrecht kritisiert wurde. Es ging um die wöchentliche Höchstarbeitszeit. Deutschland verletze die Europäische Sozialcharta, weil einige Tarifverträge Regelungen vorsähen, die über das dort festgelegte Maß hinausgingen. Kritik gab es auch wegen Verstößen gegen die wöchentlichen Ruhezeiten oder das Recht auf angemessene Entlohnung. Auch bei der Gleichstellung von Mann und Frau und beim Streikrecht sahen die Europarats-Experten Mängel.



1996 wurde der Text völkerrechtlich verbindliche Text gründlich überarbeitet; 1999 trat die reformierte Fassung in Kraft. Insgesamt 43 der 47 Europarats-Mitgliedstaaten haben entweder die alte oder die neue Version der Sozialcharta ratifiziert. Es fehlen jetzt noch Liechtenstein, Monaco, San Marino und die Schweiz.



Das Dokument sollte ein soziales Gegenstück zur Europäischen Menschenrechtskonvention werden, mit der die Europarats-Mitgliedstaaten sich auf grundlegende gemeinsame Werte verpflichteten. Auch im sozialen Bereich wurden fundamentale Regeln festgelegt: Das Recht auf angemessenen und erschwinglichen Wohnraum, das Recht auf allgemein zugängliche Gesundheitseinrichtungen, unentgeltliche Schulbildung, das Verbot der Zwangsarbeit, das Streikrecht oder - in der revidierten Fassung - das Recht auf würdiges Altern.



Ein zahnloser Tiger?

Kontrolliert wird die Einhaltung dieser Regeln durch den "Europäischen Ausschuss für soziale Rechte". Dessen 15 Mitglieder waren es auch, die im vergangenen Dezember Deutschland wegen der Mängel bei der Umsetzung der Charta rügten. Dabei stützen sich die Experten auf Berichte, die von den Staaten übermittelt werden müssen. Daneben können inzwischen aber auch Nichtregierungsorganisationen und Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbände Rügen beantragen. Das Schlimmste aber, was einem Staat passieren kann, ist, dass das Ministerkomitee des Europarates Empfehlungen ausspricht, wie Abhilfe zu schaffen ist.



Ein zahnloser Tiger also? In den Augen des Europarates gibt es durchaus Erfolge. Der Straßburger Staatenbund listet Fortschritte auf, die etwa in Deutschland unternommen worden seien, um die Rechtslage mit der Sozialcharta in Einklang zu bringen. So seien Ungleichheiten zwischen der Behandlung ehelicher und unehelicher Kinder 1998 abgeschafft worden. Auch Verbesserungen beim Mutterschutz, bei der rechtlichen Stellung von Seeleuten oder beim Verbot von Diskriminierung bewertet der Staatenbund als Ergebnisse der Sozialcharta.



Von A wie Albanien bis V wie Vereinigtes Königreich

Doch länger ist die Liste der Missstände, in denen Deutschland noch nicht der Europäischen Sozialcharta gemäß handelt. So würden nicht alle Europarats-Staatsbürger rechtlich bei der sozialen Sicherheit gleichgestellt, die Entlohnung von Auszubildenden falle zu niedrig aus, und Migranten aus Europarats-Mitgliedstaaten könnten abgeschoben werden, auch wenn sie keine Gefahr für öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellten.



Gewiss: Von A wie Albanien bis V wie Vereinigtes Königreich - in keinem Fall sind die Europarats-Experten mit der Einhaltung der Europäischen Sozialcharta völlig zufrieden. Da werden in Albanien etwa "offenkundig unfaire Mindestlöhne" beklagt oder in Großbritannien unzureichende Bestimmungen zur Arbeitssicherheit. Für Norwegen beklagen die Fachleute, tägliche Arbeitszeiten von bis zu 16 Stunden seien rechtlich nicht völlig ausgeschlossen, und in Luxemburg seien die Arbeitszeiten für Jugendliche unter 16 Jahren zu hoch.



Terry Davis, damals Europarats-Generalsekretär, nannte die Sozialcharta vor zehn Jahren zu ihrem 40. Geburtstag einen Markstein, weil sie immer häufiger in nationaler oder internationaler Gesetzgebung berücksichtigt und von den Gerichten angewendet werde. Zehn Jahre später ist dieser Prozess noch immer nicht abgeschlossen.