"Ärzte ohne Grenzen" wird 40 Jahre alt

Verlorene Unschuld

Die Geschichte von "Ärzte ohne Grenzen" begann mit einem vermeintlichen Völkermord. Irrtümer blieben auch später nicht aus. Aber das Sendungsbewusstsein der Helfer, die 1999 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurden, ist bis heute ungebrochen.

Autor/in:
Markus Geiler
 (DR)

Überall Elend, Tod und Verderben. Das Bild, das sich der Handvoll französischer Ärzte 1967 in der nigerianischen Provinz Biafra bietet, schockiert und verstört. Kinder, zu Skeletten abgemagert und durch Ödeme entstellt, sterben völlig geschwächt in den Armen der Helfer. Ihre Mütter, von Hunger und Erschöpfung apathisch, sind kaum zur Trauer fähig.



Die vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) geschickten Mediziner sind sich sicher, Augenzeugen eines Völkermordes zu sein, der von der Weltöffentlichkeit unbemerkt bleibt. Also brechen sie das vom IKRK auferlegte strikte Schweige- und Neutralitätsgebot und gehen an die Presse.



"Wir konnten nicht mehr schweigen. Dazu hatten wir kein Recht mehr. Wir mussten es herausschreien", erinnert sich später der Arzt Pascal Grellety-Bosviel. Am Ende dieses Tabubruchs steht 1971 die Gründung einer neuen humanitären Organisation: Médecins Sans Frontières/Ärzte ohne Grenzen (MSF). Am Wochenende feiert die Organisation mit heute rund 30.000 Mitarbeitern in Paris ihr 40-jähriges Bestehen.



Selbstkritisch zum Jubiläum

Ihr Ziel war klar umrissen: der medizinische Notfalleinsatz in Kriegs- und Krisengebieten. Anders als beim Roten Kreuz sollten die freiwilligen Mitarbeiter nicht einem strikten Schweigegebot unterworfen werden. "Soigner et temoigner" (behandeln und bezeugen), lautete der Wahlspruch damals. Vier Jahrzehnte später bilanziert die langjährige Geschäftsführerin der deutschen Sektion von "Ärzte ohne Grenzen", Ulrike von Pilar: "Die Geschichte der humanitären Hilfe ist auch die Geschichte einer verlorenen Unschuld. Aber unser Sendungsbewusstsein ist ungebrochen."



Selbstkritisch setzt sich die Hilfsorganisation in einer zum 40-jährigen Bestehen erschienenen Broschüre mit der eigenen Arbeit auseinander. Heute weiß man, dass der Gründungsmythos von Biafra auf einem Irrtum beruhte. Es war kein Völkermord. Der Konflikt um die ölreiche Provinz in Nigeria war ein grausames Spiel um Einfluss und Macht, hinter dem westliche Mächte standen. Es gab darin keine Guten und keine Bösen. Durch den Tabubruch der französischen Ärzte wurde es aber die erste afrikanische Katastrophe, die es auf Titelseiten und Bildschirme des Westens schaffte.



"Man steht schnell im Verdacht der Spionage"

Es sollte nicht der einzige Irrtum bleiben. Nach dem Völkermord an den Tutsi 1994 in Ruanda wurde die humanitäre Hillfe von MSF in den Flüchtlingslagern von Zaire, dem heutigen Kongo, systematisch und lange geplant von den Hutu-Anführern des Genozids missbraucht. Unter den Flüchtlingen befanden sich bis zu 60.000 Milizen und Verantwortliche des Völkermords, die sich von den internationalen Organisationen durchfüttern ließen. "Die Erkenntnis, missbraucht worden zu sein, war ein schmerzhafter Prozess", erinnert sich Ulrike von Pilar. Es sei ein Beispiel dafür gewesen, dass humanitäre Hilfe auch schaden kann.



Egal ob Krieg, Völkermord, Hungerkrisen oder Naturkatastrophen: Wer humanitäre Hilfe leisten will, "muss sich raushalten und abgrenzen", sagte der heutige Geschäftsführer der deutschen Sektion, Frank Dörner. "Wir leisten keine Entwicklungshilfe, machen keine Friedensarbeit, bieten keine Konfliktlösungen an. Wir sind nur der Notarzt, der zur Erstversorgung kommt." Diese Abgrenzung durchzuhalten werde immer schwieriger, je stärker die humanitäre Hilfe von den westlichen Regierungen politisiert und vereinnahmt wird.



"Man steht schnell im Verdacht der Spionage, wenn man sich nicht auf die rein medizinische Versorgung beschränkt", sagt der Berliner Notfallmediziner Tankred Stöbe. In Afghanistan beispielsweise habe er häufiger Situationen erlebt, in denen sehr genau nachgefragt wurde, was die Ärzte da tun und in welchem Auftrag, erinnert sich der Vorstandsvorsitzende der deutschen Sektion. "Da war es gut, dass ich denen versichern konnte, dass wir völlig neutral sind."



Im Jahr 2010 war MSF bei insgesamt 427 humanitären Projekten in 60 Ländern im Einsatz. Allein 7,3 Millionen Menschen wurden ambulant, weitere 362.000 stationär behandelt. Finanziert wird das Engagement der freiwilligen Helfer fast ausschließlich von den weltweit mehr als fünf Millionen Privatspendern.