50 Jahre Sturmflut-Katastrophe in Hamburg

Kirchengeläut entlang der Elbe

Vor 50 Jahren, in der Nacht zum 17. Februar, stürmt "Vincinette" über Hamburg und bringt riesige Wassermassen mit: Unter der Wucht des Orkantiefs brechen 61 Deiche, 130 Quadratkilometer Land werden überschwemmt - etwa ein Fünftel des Stadtgebietes. Weil ein Notfallplan fehlt, werden die Menschen von den Wassermassen überrascht, viele ertrinken. Mit Gedenkveranstaltungen und Gottesdiensten erinnern die Kirchen in Hamburg an die verheerende Flutkatastrophe.

Autor/in:
Kerstin Kotterba
 (DR)

Als besonderes Zeichen sollen die Kirchenglocken entlang der Elbe am Jahrestag läuten.



"Ich habe gedacht, die Welt geht unter"

Die meisten Hamburger gehen an dem Freitagabend 1962 ins Bett, ohne zu ahnen, was für eine Nacht ihnen bevorsteht. So auch das junge Ehepaar Margit und Paul-Dieter Deinert. Erst ein paar Monate vorher hatten sie die Doppelhaushälfte in Wilhelmsburg erstanden. Ein Hamburger Stadtteil, der von Norder- und Süderelbe umarmt ist und zum Zentrum der Katastrophe wird. 60.000 Menschen leben dort 1962, viele nach dem Krieg noch in Behelfsheimen und Gartenlauben - leichte Beute für die einbrechenden Wassermassen.



Kalt und windig war es am Tag vor der Flut gewesen, aber nichts wies auf die Katastrophe hin, erzählt die heute 74-jährige Margit Deinert. Als sie in der Nacht aufwacht, ist der Strom bereits ausgefallen, die Telefonverbindungen sind gekappt, das Wasser hat sich seinen Weg gebahnt bis vor das Haus. "Ich habe gedacht, die Welt geht unter", sagt die Katholikin rückblickend. Der erste



Impuls: ein Gebet zum Himmel um Beistand

Erst als es hell wird, zeigt sich das ganze Ausmaß der Deichbrüche. "In der Strömung trieben Tierkadaver zwischen lebenden Tieren, aber auch Autos und Möbel spülte das Wasser umher", erzählt Deinert. Bei knapp über null Grad und Sturmböen der Windstärke 12 stehen Menschen in Nachthemden auf den Hausdächern und warten auf Hilfe.



Bei Tagesanbruch wird Helmut Schmidt, damals Senator der Hamburger Polizeibehörde, informiert. Rund 20.000 Menschen sind zu diesem Zeitpunkt bereits vom Hochwasser eingeschlossen. Rettungsdienste, der Katastrophenschutz, das Technische Hilfswerk (THW) und kirchliche Hilfsorganisationen wie die Caritas arbeiten Hand in Hand. Schmidt fordert Bundeswehr und NATO an, um auch mit Soldaten, Hilfsgütern, Hubschraubern für schnelle Hilfe zu sorgen. Dass er verfassungsrechtlich zu diesem Schritt gar nicht befugt ist, stört den späteren Bundeskanzler wenig.



Sturmboote fahren am Haus der Deinerts vorbei und retten zunächst die Menschen in größter Not von Bäumen. "Wir konnten einfach nichts machen", sagt Margit Deinert. Auf den Flachdächern landen Hubschrauber und bringen Notrationen an Brot und Milch, auch Kerzen und Brennholz werden verteilt. Kirchen werden kurzfristig zu Notunterkünften umfunktioniert. Auf dem Wasser rudern Menschen auf selbst gezimmerten Booten und suchen nach ihren Familienangehörigen - oft vergeblich. Deinert: "Von einer Nachbarsfamilie hat nur der Vater überlebt, die beiden Kinder und die Frau waren fortgespült."



Todesanzeigen füllen ganze Seiten

Ihr Mann Paul-Dieter und ein Bekannter funktionieren kurzerhand eine Badewanne zum Boot um. Damit fahren sie zwischen den Häusern und versorgen die Menschen mit Lebensmitteln. Über das wahre Ausmaß der Flut erfährt die Familie erst später aus der Zeitung: Die Todesanzeigen füllen ganze Seiten. In dieser Nacht kommen mehr als 300 Menschen ums Leben, Zehntausende sind obdachlos, und unzählige Tiere ertrinken. Der finanzielle Schaden wird auf rund eine Milliarde Mark geschätzt.



Als sich das Wasser zwei Wochen später langsam zurückzieht, bedecken Schlamm, Müll und Tierkadaver die Straßen. "Wir haben einfach angefangen aufzuräumen, es gab so viel zu tun", sagt Deinert. Keller und Wohnungen werden zum Schutz vor Seuchen desinfiziert. Auch die Kirche hilft in dieser Zeit, gibt Unterschlupf für Obdachlose und organisiert Essensverteilungen. Familien mit Kindern werden von der Caritas zur Erholung verschickt. "Es war eine schreckliche Erfahrung", sagt Deinert im Rückblick. "Aber vor dem Schlimmsten hat uns Gott bewahrt."