Vor 40 Jahren: Deutsche und Polen entgiften Schulbücher

Abschied von Feindbildern

Mitten im kalten Krieg machten sich westdeutsche und polnische Wissenschaftler daran, Schulbücher von Vorurteilen und Feindbildern zu befreien. Ein Versuch mit ungewissen Erfolgsaussichten: Kaum ein Mitglied der deutsch-polnischen Schulbuchkommission hätte 1972 für möglich gehalten, dass die Kommission sogar ein gemeinsames Geschichtsbuch für beide Länder auf den Weg bringt. Doch pünktlich zum 40. Geburtstag der Kommission soll nun genau dieses Projekt Realität werden.

Autor/in:
Oliver Hinz
 (DR)

Der 40. Jahrestag der Gründung der Schulbuchkommission wird an diesem Donnerstagabend in Braunschweig mit einem Festakt unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten Joachim Gauck und des polnischen Präsidenten Bronislaw Komorowski begangen. In der niedersächsischen Stadt wurde die Kommission 1972 gegründet. Hier hat das Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung seinen Sitz, das von Anfang an der Motor der Schulbuchgespräche war.



Nach dem Zweiten Weltkrieg wimmelte es im Unterricht beider Länder von feindseligen und nationalistischen Darstellungen. In polnischen Lehrbüchern wurde den Westdeutschen Kriegstreiberei vorgeworfen und dabei auf den nationalsozialistischen Vernichtungsfeldzug verwiesen. An deutschen Schulen kursierten antipolnische Begriffe wie "Polacken". Die Geschichte des Nachbarlandes wurde verballhornt. Auf beiden Seiten setzten sich bei der Nachkriegsgeneration negative Vorurteile fest.



Das weithin vergiftete Verhältnis änderte sich erst mit der Entspannungspolitik von Bundeskanzler Willy Brandt, die 1970 zur Unterzeichung des Warschauer Vertrags führte. In diesem Klima beschlossen die Präsidenten der deutschen und der polnischen Kommission der Weltkulturorganisation UNESCO, dass Historiker und Geografen Empfehlungen für die Gestaltung von Geschichts- und Erdkundeschulbüchern erarbeiten sollten.



Sowjetische Dogmen

Die Schirmherrschaft der UNESCO sicherte der Schulbuchkommission zwar eine gewisse Unabhängigkeit von den Regierungen, die der ebenfalls bestehenden gemeinsamen Kommission der DDR und Polens fehlte. Völlig frei von sowjetischen Dogmen war die polnische Delegation allerdings nicht. Aus Rücksicht auf Moskau blieb in den Empfehlungen etwa der "Hitler-Stalin-Pakt" von 1939 unerwähnt.

Andernfalls hätte dies wohl das Aus der Kommission bedeutet.



"Die 1976 verabschiedeten Schulbuchempfehlungen waren eine kleine Revolution", sagt der heutige polnische Ko-Vorsitzende der Kommission, der Historiker Robert Traba. Fortan wurde etwa in immer mehr deutschen Geschichtsbüchern und Schulatlanten nicht mehr der Eindruck erweckt, dass die ehemals deutschen Ostgebiete nur unter polnischer Verwaltung stünden und eine Grenzrevision möglich sei. Die Historiker seien Pioniere der deutsch-polnischen Verständigung gewesen, so Traba.



Dennoch hagelte es Kritik. Das CSU-Parteiorgan "Bayernkurier" titelte mit "Fälschungen aus Freundschaft". Mehrere von der Union geführte Landesregierungen weigerten sich, die Kommissionsbeschlüsse an die Schulen weiterzugeben. Beanstandet wurde etwa, dass der Begriff "Vertreibung" mit "Zwangsumsiedlung" umschrieben wurde.



Kritik aus beiden Ländern

Ganz verstummt ist die Kritik bis heute nicht. Die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, die CDU-Abgeordnete Erika Steinbach, warf

2011 den Mitgliedern der Schulbuchkommission vor, sie setzten auf "Verschweigen". Und in Polen beschwor die rechtskonservative Tageszeitung "Nasz Dziennik" die Gefahr der Geschichtsfälschung.



Das 2007 vom damaligen deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) und seinem polnischen Amtskollegen Radoslaw Sikorski vorgeschlagene gemeinsame Geschichtsbuch soll 2014 oder 2015 fertig sein. Das Konzept beruht auf den 2010 vorgestellten Empfehlungen der Schulbuchkommission. Die Tatsache, dass dabei auf ein Differenzprotokoll verzichtet wurde, spricht für die großen Fortschritte im wissenschaftlichen Dialog zwischen Deutschen und Polen. Die Kommission dient inzwischen auch Chinesen, Koreanern und Japanern als Vorbild für die Überwindung von Feindbildern.