Theologe Hattrup zur Entdeckung des "Gottesteilchen"

Wenn aus Masse Strahlung wird

Es könnte eine der größten Entdeckungen der Forschungsgeschichte sein: Forscher am Kernforschungszentrum Cern haben ein neues Elementarteilchen beobachtet - möglicherweise das mysteriöse "Gottesteilchen". Das so schwer zu fassende Teilchen gilt als der Urheber für eine der Grundeigenschaften aller Dinge: der Masse. Gottesteilchen heißt es NICHT, weil es die Schöpfungslehre ersetzen soll, meint Professor Dieter Hattrup, Physiker, Mathematiker und Theologe im domradio.de-Interview.

 (DR)

domradio.de: Fangen wir mit dem widersprüchlichen Begriff an. Die Forscher sprechen vom Higgs-Boson-Teilchen, benannt nach einem britischen Physiker. Früher hieß es auch "gottverdammtes" Teilchen, weil es niemand gefunden hat. Wie wurde daraus das Gottesteilchen?--
Professor Dieter Hattrup: Ja, das ist ein Werbetrick eines amerikanischen Verlages gewesen. Vor 50 Jahren hat dieser schottische Physiker Higgs also versucht, das Problem anzugehen, wie aus Strahlung Masse und aus Masse Strahlung wird. Das hatte man bisher nicht verstanden. Und weil man das entsprechende Teilchen nicht gefunden hat, hat ein Physiker vor 20 Jahren ein Buch geschrieben: "The Goddamn Particle - Das gottverdammte Teilchen". Und dann hat der Verlag das "dammn" weggestrichen und es blieb "The God Particle - Das Gottesteilchen". Das war also nur ein Werbegag.



domradio.de: Warum wird denn jetzt so viel Wind um dieses winzige Teilchen gemacht. Was haben wir davon?--
Hattrup: Da kann man zwei Gründe angeben. Das Erste ist: Es ist wirklich ein großes Problem, das hier möglicherweise gelöst worden ist. Das Problem, wie aus Masse Strahlung wird, zum Beispiel geschieht das mit Millionen Tonnen jede Sekunde in der Sonne. Masse geht verloren bzw. wird umgesetzt in Strahlung, und davon leben wir. Das ist ja schon mal ganz wichtig, das zu verstehen, wie das funktioniert. Und das andere ist die Frage: Wie verhält sich Gott zur Natur? Eine wichtige Frage, die schon die ganze Neuzeit durchzieht.



domradio.de: Es heißt, das Teilchen sei Urheber von Masse? Was ist Masse überhaupt? --
Hattrup: Seit Einstein 1905 weiß man e=m*c2, also dass Strahlungsenergie zu Masse werden kann und umgekehrt. Und diesen Prozess hatte man nicht richtig verstanden. Da brauchte man so etwas wie ein Teilchen, das das erklärt. Und das hat man jetzt gefunden. Masse ist einfach das, was man wiegen kann, was sich also an einem Ort befindet. Strahlung hingegen bewegt sich mit Lichtgeschwindigkeit. Und es ist ja sehr merkwürdig, dass plötzlich etwas, das mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs ist, auf null abgebremst wird und als Masse erscheint. Das soll Hoggs" Theorie erklären.



domradio.de: Anhand des Higgs-Boson-Teilchens könnte die Urknall-Theorie bewiesen werden. Verliert die christliche Schöpfungslehre damit an Bedeutung?--
Hattrup: Also, ob das Higgs-Boson die Urknall-Theorie bestätigt, weiß ich nicht. Aber die Urknall-Theorie ist natürlich für die Schöpfungslehre etwas sehr Gutes, weil dort ein Anfang existiert, auch der Physik und der Kosmologie nach. Bis vor 80 Jahren hatten viele Physiker und Kosmologen geglaubt, die Natur sei ewig. Das ist jetzt nun wirklich nicht der Fall.



domradio.de: Vielleicht können Sie uns noch einmal erklären, wie diese beiden Schöpfungstheorien nebeneinander stehen - der Urknall als physikalische und auch chemische Theorie und die Schöpfungsgeschichte aus der Bibel.--
Hattrup: Das ist das Verhältnis zwischen Natur und Gott - beides soll ja eine letzte Wirklichkeit sein. Ist Natur die letzte Wirklichkeit? Oder ist Gott die ganze Wirklichkeit? Das ist eine Frage, die die ganze Neuzeit bis heute in Spannung hält. Was ist Natur? Natur ist das, was man begreifen und messen kann, was man also überprüfen kann, was ich selbst ergreifen kann. Dagegen gibt es immer noch etwas, was mich ergreift.



domradio.de: Würden Sie denn so weit gehen zu sagen, dass Gott die Ursache für den Urknall ist?--
Hattrup: Das kann man sagen. Man muss aber genauer sagen, was man an Gott denn beschreiben will. Unendlichkeit, Ewigkeit - ich würde sagen, Gott ist Freiheit, die in Liebe tätig ist, und die zeigt sich in der Natur, eben in den Gesetzen der Natur und in der Begrenztheit dieser Gesetze, in Notwendigkeit und Zufall. So sehe ich das in den letzten Jahren und rede und schreibe darüber.



Das Interview führte Monika Weiß. Prof. Dr. Dr. Dieter Hattrup ist Professor für Dogmatik und Dogmengeschichte

an der Theologischen Fakultät Paderborn und ist zum Mathematiker und Physiker.



Hintergrund

Es ist die Lösung eines der größten physikalischen Rätsel der Gegenwart: Am europäischen Kernforschungszentrum CERN in der Schweiz haben Wissenschaftler mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit das auch "Gottesteilchen" genannte Higgs-Boson gefunden. Die Fehlerwahrscheinlichkeit betrage nur eins zu einer Million, betonten die Forscher. Das Higgs-Boson ist ein fundamentaler Baustein unseres heutigen physikalischen Weltbilds. Es gilt als der Urheber für eine der Grundeigenschaften aller Materie: die Masse.



"Wir haben eine Entdeckung - wir haben ein Teilchen gefunden, das konsistent mit dem Higgs-Boson ist", sagte CERN-Generaldirektor Rolf Heuer am Mittwoch im Auditorium der Einrichtung in Genf. Damit bestätigte er unter donnerndem Applaus und Jubelrufen von Forscherkollegen offiziell, dass die Teilchenphysiker nach mehreren Jahrzehnten der Suche das letzte bislang nicht nachgewiesene Teilchen gefunden haben. Übersetzt in die Laiensprache würde er sagen: "Wir haben es", betonte Heuer.



Der britische Physiker Peter Higgs, der mit anderen Forschern in den 1960er Jahren die theoretischen Grundlagen für das nach ihm benannte Teilchen legte, zeigte sich begeistert. Er habe kaum geglaubt, dass der experimentelle Nachweis noch zu seinen Lebzeiten gelingen werde, sagte der 83-Jährige in Genf. Das sei ein "gewaltiger Erfolg" und "wirklich großartig".

Forscher bezeichnen Ergebnis als vorläufig



Die CERN-Forscher bezeichnen ihr Ergebnis noch als vorläufig, da die Auswertungen nicht abgeschlossen seien. Man müsse noch prüfen, ob sich das neu entdeckte Teilchen tatsächlich mit Fermionen, den Teilchen der normalen Materie, verbinde. Denn erst dieser Prozess sei es, der der Materie die Masse verleihe - und der das Standardmodell Higgs-Boson charakterisiere. "Dazu brauchen wir vermutlich noch dieses Jahr", prognostiziert der Leiter des Instituts für Experimentelle Kernphysik am Karlsruher Institut für Technologie und langjährige Mitarbeiter am CERN, Professor Thomas Müller, im dapd-Interview.



Bundesforschungsministerin Annette Schavan (CDU) sprach in Berlin von einer "wissenschaftlichen Sensation". Sie lobte, dass deutsche Forscher einen maßgeblichen Anteil an der Entdeckung des Teilchens hatten. Unter anderem Wissenschaftler aus Mainz und Gießen verwiesen auf ihre Beiträge zum Erfolg.



Schavan sagte, in den vergangenen 15 Jahren habe ihr Ministerium deutsche Hochschulen für ihre Arbeit am Teilchenbeschleuniger des CERN mit insgesamt 175 Millionen Euro gefördert. "Die Ausdauer und Neugier der Wissenschaftler wurde belohnt", sagte Schavan.



Die Präsidentin der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, Johanna Stachel, verwies auf die Bedeutung von Kooperationen in der Forschung: "Der experimentelle Nachweis des Higgs-Teilchens zeigt, dass die schwierigsten Probleme nur dann gelöst werden können, wenn es eine weltweite Zusammenarbeit ohne politische Zwänge und Vorgaben gibt."



Der Bamberger Erzbischof Ludwig Schick warnt davor, "Gott auf ein Elementarteilchen zu reduzieren". Die Bezeichnung "Gottesteilchen" verleite zu dem Missverständnis, das Geheimnis der Schöpfung könne mit der Wissenschaft und dem menschlichen Verstand irgendwann völlig erklärt werden, sagte der Erzbischof am Mittwoch der Nachrichtenagentur dapd in Bamberg.



Schick appellierte an die Wissenschaftler und die Medien, nicht den Begriff "Gottesteilchen" zu verwenden: "Denn dadurch könnte der Eindruck entstehen, die Wissenschaft strebe an, die Schöpfung irgendwann im Labor nachbauen oder Gott wie auf dem Seziertisch analysieren zu können."



Der Erzbischof betonte, dass auch durch neue Erkenntnisse "kein Widerspruch zwischen christlichem Glauben und Wissenschaft" entstehe. Gleichermaßen gelte für die Theorie des "Urknalls" wie auch für das Higgs-Boson, dass ihnen ein göttlicher Schöpfungsakt zugrunde liegen müsse.



Zugleich gratulierte Schick, der Vorsitzende der Kommission Weltkirche der Deutschen Bischofskonferenz ist, dem internationalen Physiker-Team zu seiner neuen Erkenntnis, die vermutlich wegweisend für die Forschung sein werde. Es sei "begrüßenswert, dass die Wissenschaft mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln versuche, immer tiefer in die Geheimnisse unserer Welt einzudringen und sie für die Menschen verständlich zu machen".



Zugleich müsse sich der Mensch aber auch immer seiner Grenzen bewusst sein und anerkennen, "dass unser Verstand niemals die Größe Gottes mit einer naturwissenschaftlichen Formel auf den Punkt bringen" werde. Bischof Schick erinnerte an den Heiligen Augustinus, der den Versuch, die Unergründlichkeit Gottes zu verstehen, damit verglich, das Meer mit einer Muschel auszuschöpfen.