Gauck zu Alter und demografischem Wandel

"Summen lassen sich umschichten - Seelen müssen reifen"

Man weiß nicht so recht, ob da der Bundespräsident oder der Pfarrer spricht. Als Joachim Gauck die Festrede zum 50. Geburtstag des Kuratoriums Deutsche Altershilfe in Bonn hält, mischen sich politische Forderungen mit Gesellschaftsanalyse und Sätzen, die in jeder guten Predigt Platz gefunden hätten.

Autor/in:
Christoph Arens
 (DR)

Gauck ist wie seine Amtsvorgänger Schirmherr des Kuratoriums, das 1962 von Bundespräsident Heinrich Lübke und seiner Frau Wilhelmine gegründet wurde. Wegbereiter einer modernen Altenhilfe, will die in Köln ansässige Einrichtung sein. Und Brücke zwischen Wissenschaft und Praxis, wie der KDA-Vorstandsvorsitzende Jürgen Gohde betont. Da geht es um die Weiterentwicklung von Wohnformen in der älter werdenden Gesellschaft. Auch bei der Pflegeversicherung, dem Essen auf Rädern, der Entwicklung der Tages- und Kurzzeitpflege beansprucht das Kuratorium Mitautorenschaft.



Gauck redet am Freitag (05.10.2012) nüchtern, wirkt nicht pastoral. Und doch spüren die Zuhörer, dass dem evangelischen Theologen das Thema ein Herzensanliegen ist. "Es fällt mir nicht leicht, hier über das Sterben zu sprechen. Aber wir sind als Gesellschaft erst ganz bei uns, wenn wir bis zum Schluss beieinander bleiben", sagt er. Und verweist darauf, dass er sich selber schon "in der Nähe jener Trennlinie" zwischen einem aktiven Alter und einer möglicherweise ganz plötzlich eintretenden Pflegebedürftigkeit und Hilflosigkeit befinde.



Der 72-Jährige fordert nicht nur eine politische Debatte über Altersarmut, eine Arbeitswelt, die sich auf Familien mit pflegebedürftigen Alten einstellt oder eine altengerechte Gestaltung von Dörfern und Stadtvierteln. Es geht ihm um einen gesellschaftlichen Bewusstseinswandel in einer Zeit, in der die Folgen des demografischen Wandels immer deutlicher werden.



"Wir brauchen vor allem Menschen, die mit den existenziellen Fragen umgehen können, weil diese Fragen stärker als früher unser Zusammensein prägen werden", sagt der Bundespräsident und lobt die Hospizbewegung mit ihren 80.000 freiwilligen Helfern bundesweit. "Für mich ist diese emotionale und soziale Kompetenz der größte Engpass und damit die größte Schwachstelle unserer Gesellschaft. Summen lassen sich zur Not von heute auf morgen umschichten. Seelen dagegen müssen reifen."



In dieser Perspektive interpretiert Gauck auch das derzeit in den Kinos laufende Drama "Liebe" von Regisseur Michael Haneke, in dem ein Ehepaar um ein würdevolles und selbstbestimmtes Ende des gemeinsamen Lebens kämpft. "Selten sind die inneren und äußeren Kämpfe, die Verwundbarkeiten im Alter so schonungslos gezeigt worden", meint Gauck. "Filmemacher und Publikum haben einen alten Schmerz neu entdeckt. Er sitzt genau dort, wo vorher der blinde Fleck in unserer Wahrnehmung von Alter und Sterben war." Den zur Feierstunde in das Bonner Haus der Geschichte eingeladenen Pflegeschülerinnen und -schülern macht der Präsident Mut. "Unser Land braucht Sie, braucht mehr von Ihnen - alle hier im Saal wissen das." Die Auszubildenden hätten sich für einen Beruf entschieden, der "zugleich eine Berufung ist".



Es gebe keinen Bundespräsidenten vor ihm, über den man auch persönlich so viel erfahren habe wie über Gauck, schrieb die Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit" beim Amtsantritt Gaucks. Der Theologe selber trägt viel dazu bei an diesem Morgen in Bonn: "Ich bin ein lebensbejahender Mensch", sagt er. Und gerade deshalb wolle er bei seiner Festrede das Menschsein mit all seiner Verletzlichkeit und seiner Endlichkeit ansprechen.



Und dann gewährt er einen kurzen Blick in sein Büro und seinen Alltag: An dem Tag, als er mit seinen Mitarbeitern den Festakt des Kuratoriums vorbereitet habe, habe er eine SMS von seinem Schwiegersohn erhalten: "Gruß aus dem Kreißsaal. Unser kleiner Bela ist da!" Die Geburt seines elften Enkelkindes habe ihm klar gemacht: "Wenn ein neues Leben auf dieser Erde beginnt, bereiten wir so vieles vor, sind umtriebig und voller Tatendrang. Aber wenn das Ende eines Lebens naht, erstarren wir fast, schieben auf, was dringend geklärt werden müsste."