Friedenspreis für chinesischen Autor Liao Yiwu

Schreiben, um der Angst zu entfliehen

Er verlor seine Würde, um sie anderen zu geben. Liao Yiwu verleiht den Entrechteten eine Stimme. Dafür büßte er mit vier Jahren Gefängnis - und Alpträumen, die ihn auch im deutschen Exil immer wieder einholen. Für sein Lebenswerk wird er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt.

Autor/in:
Natalia Matter
 (DR)

Er liebt die Friedhöfe von Berlin. "Ich gehe immer zu den Gräbern aus dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg", sagt der Schriftsteller Liao Yiwu. Wie Deutschland mit seiner Geschichte umgehe, fasziniere ihn. Deshalb fühle er sich in der einst geteilten Stadt so wohl. Vor etwas mehr als einem Jahr floh Liao auf abenteuerliche Weise aus China nach Deutschland. Er war schikaniert, inhaftiert und gefoltert worden. Nun kämpft er aus der Ferne weiter. Für seinen Mut erhält er am Sonntag in Frankfurt den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.



Der Umgang mit Vergangenheit hat eine zentrale Bedeutung in Liaos Leben. Denn der Lyriker geriet ins Visier der Behörden, als er nach der blutigen Niederschlagung der Demokratiebewegung am 4. Juni 1989 das Klage-Gedicht "Massaker" schrieb, das auf Kassetten kopiert schnell im Land kursierte. Doch die chinesische Führung wollte den Aufstand totschweigen. So reichte das Gedicht und der mit Freunden gedrehte Film "Requiem" als Grund für seine Inhaftierung im März 1991 und seine Verurteilung als "Konterrevolutionär".



Bis dahin hatte sich Liao nie sehr für Politik interessiert, obwohl er in seiner Jugend die ideologischen Kampagnen Mao Tse-tungs und die Denunziation angeblicher Klassenfeinde erlebte. Er schaffte die Aufnahmeprüfung zur Universität nicht, schlug sich mit allerlei Jobs durch, bis er durch seine Lyrik auffiel und eine Anstellung in einem Verlag erhielt. "Nur als es zu einer dramatischen Kollision zwischen der Staatsideologie und meiner Eigenart als Dichter gekommen ist, blieb mir nichts anderes übrig, als mich zu wehren und sogar bis zur Selbstzerstörung Widerstand zu leisten."



In China verboten

Seine Erfahrungen im Gefängnis schildert Liao in dem fast 600 Seiten dicken Buch "Für ein Lied und hundert Lieder". Er musste es dreimal schreiben, weil zwei Manuskripte konfisziert und vernichtet wurden. In drastischer Klarheit schildert er die Brutalität und Erniedrigungen während seiner vierjährigen Haft. Er sei "herabgesunken zu einem "Hund" meines eigenen Staates", sagte er in seiner Dankesrede für den Geschwister-Scholl-Preis, den er im November 2011 erhielt. "Ich habe den Kopf gegen die Wand geschlagen, um mich umzubringen, und meine Mitgefangenen spotteten, ich sei ein ausgezeichneter Komödiant."



Das Buch ist in China verboten, ebenso wie einige seiner früheren Werke. Für eine Publikation im Ausland wäre er erneut im Gefängnis gelandet. "Für einen Schriftsteller, vor allem für einen, der sich als Zeugen der Geschehnisse in China begreift, bedeuten Rede- und Publikationsfreiheit mehr als das Leben selbst", begründete Liao seinen Entschluss zur Flucht in einem Essay in der "New York Times".



Doch die Ereignisse folgten ihm nach. Noch immer wacht er nachts aus Alpträumen auf. "Ich träume, dass meine Freunde in China wütend auf mich sind, weil ich in den Westen abgehauen bin." Die Angst ist begründet. Kurz nach seiner Flucht wurde sein Freund, der Dichter Li Bifeng, verhaftet, weil er Liao Geld für seine Flucht gegeben haben soll. Liao schreibt von Deutschland aus Briefe, sammelt Unterschriften. Er kann sich nicht frei fühlen, so lange Freunde im Gefängnis sind.



Reportagen über Chinesen am unteren Rand der Gesellschaft

International bekannt wurde Liao 2009 mit seinen Reportagen über Chinesen am unteren Rand der Gesellschaft unter dem Titel "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser". Er fühle sich "dafür verantwortlich, die Welt über das wirkliche China zu informieren, das sich hinter der Illusion eines Wirtschaftsbooms versteckt - ein China, das die brodelnde Ablehnung gleichgültig hinnimmt, die ihm aus der einfachen Bevölkerung entgegengebracht wird".



In seinem jüngsten Buch "Die Kugel und das Opium" kehrt er zum Aufstand auf dem Tiananmen-Platz 1989 zurück. "Es enthält Interviews mit Leuten, die sich Panzern entgegengestellt haben." Er habe viele Jahre daran gearbeitet, auch um Gesprächspartner zu finden. Derzeit arbeitet er an einem Buch über seine Flucht. Er wolle jedes Jahr ein Buch veröffentlichen, sagt er lächelnd. Sein leiser, zurückhaltender Tonfall steht in krassem Gegensatz zu den Geschehnissen, die er schildert. "Ich muss schreiben, um meine Angst loszuwerden, dem Entsetzen, den Träumen zu entfliehen."