domradio.de: Herr Weihbischof, wie fing das denn alles an? Ab wann können Sie sich erinnern?
Bischof Melzer: Irgendwann nach dem Krieg, kann ich mich erinnern, ging das Licht aus; es war kalt, aber ich habe nie gehungert. Doch ich erinnere mich an diese Nachkriegsjahre, als an allem Mangel herrschte, es gab wenig zu kaufen, die Häuser waren alle dunkel, es war grau – das weiß ich noch.
domradio.de: Wenn man in den Glauben hineinwächst, dann ist das Familiäre Umfeld ganz wichtig. Was hat Sie da geprägt?
Melzer: Meine Heimatpfarrei und natürlich meine Eltern: Ich stamme aus einer konfessionsverschiedenen Ehe: Meine Mutter war evangelisch, mein Vater katholisch. Ich wurde katholisch getauft, so wie das damals üblich war. Meine Eltern hatten damals Schwierigkeiten, weil meine Mutter sich dagegen gewehrt hat zu unterschrieben, dass die Kinder katholisch getauft werden. Sie hat immer gesagt: Das kann ich nicht unterschreiben, denn ich weiß nicht, wie katholisch geht.
domradio.de: Das hat sie aber dann durch Sie und Ihren Vater gelernt …?
Melzer: Das kam erst später. Meine Eltern durften damals nicht zuhause heiraten; erst durch Vermittlung des damaligen Dompfarrers Prof. Oberdörfer haben meine Eltern dann im Kölner Dom geheiratet.
domradio.de: Konfessionsverschiedene Ehen haben sie also quasi von Anfang an selbst erfahren – wann reifte denn in Ihnen der Wunsch, Priester zu werden, „richtig katholisch“ zu arbeiten, die katholische Laufbahn einzuschlagen?
Melzer: Eigentlich sehr früh: Ich bin mit sieben Jahren Ministrant geworden, also noch vor der Erstkommunion. Und ich hatte das Glück, dass wir gute Priester hatten einen guten Pfarrer, gute Kapläne. Ich habe das Manko, dass ich so gut wie keine wirklich böse Erinnerung an den Glauben aus meiner Kindheit und Jugend habe. Manchmal ist das ein Defizit, das ich spüre, wenn ich Menschen begegne, die es anders erlebt haben, die Leiden erfahren mussten. Ich muss dann aufpassen, dass ich das wahrnehme.
domradio.de: Sie sind also in der Freude des Glaubens großgeworden. Was hat Sie während des Studiums besonders geprägt, gibt es Theologen, die ihnen besonders am Herzen gelegen haben, Lehrer, die Sie geprägt haben?
Melzer: Ja, in der Fundamentaltheologie bedeutete mir Prof. „Heimo“ Dolch sehr viel. Im Kirchenrecht war es Prof. Flatten. In der Exegese Prof. Vögtle in Freiburg. Das waren einige Professoren, die mich sehr geprägt haben.
domradio.de: Nach der Priesterweihe konnte es dann richtig losgehen, Sie haben in der Gemeinde gearbeitet, Sie haben noch andere Funktionen wahrgenommen. Wir wollen uns auf Ihre lange Zeit als Sekretär des Kardinals konzentrieren. Wie würden Sie diese Zeit beschreiben?
Melzer: Dieses Amt kam völlig überraschend: Ich war Kaplan auf meiner ersten Stelle in Düsseldorf, und der Kardinal visitierte in diesen drei Jahren auch Düsseldorf und irgendwann kam ein Brief, ich sollte ihn in Köln besuchen. Dann rief der damalige Sekretär Feldhoff an: Der Kardinal fährt nach Würzburg zur Synode, am so und so vielten erwartet er Dich! Ich ahnte nichts oder vielmehr etwas ganz anderes, denn das Kollegium des Gymnasiums hatte hinter meinem Rücken darum gebeten, der Kardinal möge mich ganz freistellen für die Schularbeit. Dann habe ich in den Osterferien am Karfreitag einen Durchschlag dieses Briefs in meinem Briefkasten gefunden. Dann kam der Anruf, und ich bin nach Köln gefahren und habe gedacht: Jetzt fragt er Dich, ob ich das wollte. Eine halbe Stunde hat er mit mir nur über Schulfragen gesprochen, dann hat er die Akte zugeklappt und gesagt: Ich habe etwas anderes mit Ihnen vor.
domradio.de: Das hat Sie also sehr überrascht?
Melzer: Sehr sogar!
domradio.de: Waren das denn Lehrjahre oder Herrenjahre, als Sie dem Kardinal Höffner zu Diensten waren?
Melzer: Manchmal sage ich: Das war ein Zusatzstudium. Er war Professor und die Zusammenarbeit mit ihm war unheimlich leicht, es gab eine Entwicklung: Er bezog einen immer mehr in die Arbeit mit ein, er hatte ein Gespür dafür, welche leichten Dinge er mir schon im ersten Jahr geben konnte. Und das steigerte sich dann dahingehend, dass man auch schon einmal Texte für ihn entwerfen durfte.
domradio.de: Aber insgesamt gesehen, wenn Sie heute zurückblicken, war es eine schöne, erfüllte Zeit an der Seite des Kardinals?
Melzer: Eine wunderbare Zeit! Er ist ein heiligmäßiger Mann gewesen!
domradio.de: Sie sind bis zum Schluss bei ihm geblieben. Danach ging es dann nach Karrieregesichtspunkten, die man als kirchlicher Mensch ja gar nicht so zentral im Blick hat, erst einmal zurück in die Pfarrei. Hat Sie das belastet?
Melzer: Nein! Ich habe damals gedacht, man könnte ja warten bis der neue Erzbischof da ist. Ich bin ja auch Domvikar, ich kann diese Zeit also auch gut in Köln zubringen. Ich bin nicht arbeitslos, aber es kamen andere Gesichtspunkte ins Spiel, und dann habe ich gesagt: Ich nehme die größte Pfarrei, die im Augenblick keinen Pfarrer hat, und das war in Waldbröl.
domradio.de: Und wie waren die Jahre dort?
Melzer: Wunderbar!
domradio.de: Trotzdem muss irgendetwas damals den Heiligen Vater aufgefallen sein: Johannes Paul II hat Sie 1995 zum Weihbischof von Köln ernannt?
Melzer: Er hatte mich ein Jahr zuvor im Petersdom gesehen, hat mich mit dem Stock nach vorn gerufen und gefragt: Was machst Du, was treibst Du, wo bist Du? Und ich habe geantwortet, dass ich 70 km östlich von Köln, aber westlich von Krakau tätig war. Und da hat er erwidert: Wart’s ab!
domradio.de: Er wusste also damals schon mehr …?
Melzer: Ich weiß es nicht!
domradio.de: Aber die Nachricht war doch eine Überraschung?
Melzer: Natürlich!
domradio.de: Erinnern Sie sich noch, wie Sie es damals erfahren haben?
Melzer: Ja, an einem Montagmorgen sollte ich mittags beim Nuntius in Bonn sein und hatte zur gleichen Stunde eine Beerdigung. Da musste ich dem Nuntius sagen: Das geht nicht, ich kann die Beerdigung nicht mehr absagen, ich habe keinen Vertreter! Also haben die in Bonn alles verschoben, das Mittagessen später angesetzt. Irgendwie hat das dann hintereinander alles geklappt.
domradio.de: Als Sie dann das neue Amt als Weihbischof in Köln realisiert haben, da wussten Sie ja ein bisschen, was da auf Sie zukam, dadurch dass Sie als Sekretär ja schon ganz nah dran waren. Wovor haben Sie ein wenig Angst gehabt, worauf haben Sie sich gefreut?
Melzer: Ich war erst einmal so perplex, dass ich mich ins Auto setzte und nicht wusste, wohin ich fahren sollte! Fahr ich nach Hause in meine Pfarrei? Jetzt will ich beten, wo kann ich das denn jetzt tun? Soll ich ja sagen, soll nein sagen? Ich hatte ja einen Tag Bedenkzeit. Dann habe ich nach kurzer Zeit gedacht: Du musst jetzt dahin fahren und da beten, wo Du angefangen hast, Christus zu lieben. Du must nach Hause! Dann bin ich nach Hause gefahren und kam da so gegen 3 Uhr nachmittags an und dachte, ich wäre ganz allein in der Kirche. Das war aber nicht so: Da war gerade eine Seniorenmesse, also habe ich mich in der letzten Bank ganz hinten hingekniet und da versucht, eine Antwort zu finden. Ich denke, ich habe sie dort gefunden.
domradio.de: Darüber freuen sich viele Kölner, dass das die richtige Antwort war. Es sind noch nicht ganz 20 Jahre – eine riesige Wegstrecke, die Sie als Weihbischof zurückgelegt haben. Was ist Ihnen in Ihrem Amt als Weihbischof besonders lieb?
Melzer: Ich habe als Weihbischof das Glück, ganz viele Firmungen spenden zu dürfen. Ich wollte anfangs keine Kinder firmen, ich wollte Jugendliche firmen, die sich mit dem Glauben auseinandersetzen konnten, die auch in der Lage waren, mal zu widersprechen. Die Jasager liebt Gott nicht! Er liebt die, die auch Fragen haben, sonst bleibt der Glaube ganz oberflächlich. Was das bedeutet, hat mir ein Jugendlicher vor wenigen Tagen so verdeutlicht: Ich bin hier, weil ich ohne Gott nicht leben kann! Und Gott hat geantwortet: Und ich will nicht Dein Gott sein ohne Dich! Ich war völlig perplex über diese Antwort und fand sie einfach großartig, denn das ist genau das, was wichtig ist, was zählt. Man kann im Glauben nicht immer andere über sich und seinen Glauben reden lassen, sondern man muss selbst etwas sagen! Ich werde nicht gefragt, in welchem Jahrhundert wir leben wollen, ob wir in Köln groß werden wollen oder sonstwo, wer mein Vater, wer meine Mutter sein soll – all das ist von vorneherein entschieden. Ich werde in der Regel auch nicht gefragt, ob ich getauft werden will. Und dann sagt die Kirche: So kann das nicht bleiben! Deshalb ist mir wichtig, dass ich als Bischof, insbesondere als Weihbischof, immer wieder mit vielen jungen Menschen zusammenkomme und deren Ringen erleben, auch ihre Not, ihre Einsamkeit, weil keiner mehr mit ihnen über Gott spricht. Das erfahre ich oft. Da helfe ich gern, das macht mich sehr froh. Aber das ist nur eine Seite der Tätigkeit, man sitzt ja auch in vielen Kommissionen, in vielen Gremien, und deshalb habe ich nicht zu klagen: Die Arbeit hält mich auf Trab!
domradio.de: In der Rückschau und mit Ihrer langjährigen Erfahrung: Was sind gegenwärtig die größten Herausforderungen für die Kirche im aktuellen Fahrwasser?
Melzer: Ich will es einmal mit den Worten von Papst Franziskus sagen, der in einer Predigt sich selbst unterbrach und sagte: Ach, da fällt mir doch gerade ein, was Franz von Assisi zu seinen Brüdern sagte, als er sie aussandte, nämlich: Jetzt geht und lebt das Evangelium! Und wenn das alles nichts nutzt, dann dürft Ihr auch darüber predigen! Das ist im Augenblich vielleicht das Wichtigste für die Kirche: Wir müssen zunächst das Leben sehen, und dann die Lehre! Wir müssen erst leben, damit überhaupt klar ist, was dahintersteckt. Und nicht jemandem so ein Denkgebäude andrehen wollen, sondern die Menschen müssen spüren, woraus sie selbst leben. Wenn mir und anderen das gelingt, dann haben wir eine Zukunft, trotz unserer Schwierigkeiten heute. Die sind da, die Leute haben gelitten, viele Katholiken haben in den letzten fünf Jahren gelitten wie die Hunde, und keiner wusste, sie zu trösten, weil es sich gezeigt hat, dass wir in vielen Dingen dermaßen versagt haben, dass man fassungslos sein muss.
domradio.de: Was ist für Sie das ganz große Versagen der letzten Jahre?
Melzer: Das sind die Missbrauchsfälle, das geht ganz tief, obwohl ich mich kriminell darüber ärgere, dass wir immer vorgeführt werden, denn wenn man das überhaupt statistisch sagen kann, dann sind wir nicht die Schlimmen und die anderen die Reinen und Frommen, das ist nicht wahr, das ist kein Zölibatsproblem, kein Problem des Klerus, sondern ein Weltproblem! Und wir merken es ja permanent, nur wird immer so getan, als ob das ganz besonders den Klerus beträfe. Das stimmt nicht! Wir haben seit dem Krieg 5.000 Priester in der Seelsorge gehabt und vielleicht 40 oder 50 Fälle, in denen wir nachträglich erst erfahren haben, dass da etwas gewesen ist.
domradio.de: Neben dem Missbrauch wird immer auch immer die Frage aufgeworfen zwischen reicher Kirche und armer Kirche, wie das ja auch Papst Franziskus thematisiert. Wie beurteilen Sie diese Herausforderung?
Melzer: Ich habe es gerade sehr deutlich erfahren: Ich habe mein Auto gewechselt, weil man ja nicht in demselben Auto weiter fahren kann, wenn der Papst gewechselt hat! Natürliche fahre ich als Kölner Ford!
domradio.de: Noch einmal zur Situation im Erzbistum: Der Kardinal hat seinen Rücktritt eingereicht, der Heilige Vater hat ihn noch nicht angenommen, aber man geht davon aus, dass es in den nächsten Wochen oder Monaten passieren wird. Dann kommt zwangsläufig auf Sie als dienstältesten Weihbischof – so sehen es die Statuten vor – die Aufgabe der kommissarischen Leitung zu. Ist das für Sie eine große historische Aufgabe?
Melzer: Ich freue mich, dass Sie sich irren und ich Ihnen das bestätigen darf: Das steht nirgendwo! Sondern es kann als Diözesanadministrator jeder Priester gewählt werden; er muss nicht einmal aus unserem Bistum kommen!
domradio.de: Aber vor der Wahl des Administrators übernehmen Sie doch erst einmal die Leitung … Wenn diese Wahl auf Sie zulaufen würde, manche glauben das ja, haben Sie sich da schon Gedanken gemacht oder lassen Sie das einfach auf sich zu kommen?
Melzer: Erstens ist das ein Wahlamt, da weiß man nie, wie das ausgeht. Und man muss es auch annehmen wollen. Darüber führt man kein Interview!
domradio.de: Dann schauen wir auf Ihren 70. Geburtstag: Wie werden Sie den feiern am Karnevals-Freitag?
Melzer: An diesem Tag vor einem Jahr ist Papst Benedikt zurückgetreten. Es ist ein Tag nach Weiberfastnacht, was wollen Sie da feiern?
domradio.de: Dann wünschen wir ihnen für diesen Geburtstag alles Gute. Vielen Dank für diesen gemeinsamen Rückblick auf fast 70 bewegte Jahre, Herr Weihbischof Melzer!