Religionssoziologe analysiert Kirchenaustrittszahlen

"Skandale um Sex und Geld sind ein Supergau"

Skandale und ein daraus folgender dramatischer Vertrauensverlust sieht Religionssoziologe Michael Ebertz als Ursache für den Anstieg der Kirchenaustritte. Er verweist auf den Fall Tebartz-van Elst und den Missbrauchskandal.

Kölner Dom (dpa)
Kölner Dom / ( dpa )

KNA: Herr Professor Ebertz, wie bewerten Sie die neu veröffentlichten Kirchenaustrittszahlen?

Ebertz: Der Wert von 2010 wird mit 179.000 Austritten fast erreicht - das heißt: Wir verzeichnen erneut einen der Spitzenwerte seit der Jahrtausendwende. Damit liegt eine ähnliche Interpretation wie für 2010 nahe: Die Kirche kommt aus den Skandalen und Skandalisierungen nicht heraus. 2010 ging es um Sexualität und sexuellen Missbrauch, 2013 vor allem in Limburg um den verheerenden Umgang mit Finanzen.

Wenn beides zusammenkommt - Sex und Geld in der Kirche -, dann ist das im Grunde der Supergau. Wir sehen also eine Variation und eine Chronifizierung der Skandale in der katholischen Kirche. Hier liegen die Hauptursachen für die hohen Austrittszahlen.

KNA: Das heißt, viele Katholiken differenzieren nicht mehr zwischen den großen Skandalen und ihrer eigenen persönlichen Beziehung zur Kirche?

Ebertz: Wenn einmal ein Missstand passiert, kann man das als Unfall und einmaligen Ausrutscher interpretieren. Nach dem Motto "Alle machen mal Fehler, auch in der Kirche". Aber bei dem jetzigen Doppelschlag geht das nicht mehr. Vielmehr bewerten die Menschen den erneuten Skandal nun als Folge eines systemischen Versagens. Und das führt zum massiven Vertrauensverlust in die Institution Kirche. Es ist allen deutlich, dass es längst nicht mehr nur um Fehler von einzelnen Personen geht.

KNA: Häufig stehen Kirchenaustritte, wie Sie in einer wissenschaftlichen Studie zeigen konnten, erst am Ende eines längeren Distanzierungsprozesses. Ist das auch aktuell zu beobachten?

Ebertz: Es ist klar erkennbar, dass nach dem Limburg-Skandal viele Katholiken mit Beschämung reagieren, sprachlos werden oder sich gar in eine innere Migration zurückziehen. Viele stellen ihr bisheriges Engagement für Kirche ein, scheuen aber noch vor dem letzten Absprung zurück. Nur eine Minderheit vollzieht dann wirklich den radikalen Schnitt des Austritts.

KNA: Düstere Aussichten also auch für die Zukunft?

Ebertz: Die Spitze der Austrittszahlen erwarte ich erst für 2014. Und wir müssen uns langfristig auf mehr als 100.000 Austritte pro Jahr einstellen. Denn es gibt ein weiterhin anhaltend hohes Enttäuschungspotenzial für Katholiken. Trotz der Ermutigung durch Papst Franziskus, er alleine kann nicht alles richten.

KNA: Was meinen Sie konkret?

Ebertz: Ich rechne mit weiteren Enthüllungen im Bereich sexueller Missbrauch und Finanztransparenz. Viele Bistümer haben zum Beispiel noch immer nicht ihre Vermögensverhältnisse vollständig offen gelegt. Abzuwarten bleibt auch, ob die Weltbischofssynode über Ehe, Familie und Sexualität im Herbst 2014 und 2015 zu Ergebnissen kommt, auf welche die Menschen hoffen. Auch der Dialogprozess zur Zukunft der Kirche droht vielerorts ergebnislos zu versanden. Das wird zu neuen Enttäuschungen führen.

KNA: Eine Kehrtwende ist also unmöglich?

Ebertz: Ich bin kein Prophet, alles ist möglich. Aber ich sehe derzeit keine Hinweise darauf. Vertrauen zu gewinnen ist ungleich schwieriger, als es zu verlieren. Das liegt auch daran, dass Skandale sehr viel schlagzeilenträchtiger sind und damit sehr viel mehr Menschen erreichen, als etwa Berichte über Fortschritte bei der kirchlichen Prävention von Missbrauch oder neuen Finanzkontrollen.

Das Interview führte Volker Hasenauer.


Leere Kirche (dpa)
Leere Kirche / ( dpa )