domradio.de: Warum reicht es in den USA, wenn ein Afroamerikaner von einem weißen Amerikaner erschossen wird, für eine Protestwelle?
Prof. Sielke: Es reicht nicht immer. Wenn wir an den Fall Trayvon Martin in Florida 2012 denken, da gab es zwar Proteste, aber keine gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Bürgen und Ordnungshütern, wie wir sie jetzt seit 10 Tagen in Ferguson beobachten müssen. Die Proteste dort gründen einerseits auf einer jahrhundertelangen Erfahrung von Gewalt und Unterdrückung und der Erfahrung, dass Afro-Amerikaner für sehr geringe Delikte bis heute sehr schnell hinter Gittern landen. Wir wissen ja, dass die US-amerikanischen Gefängnisse überproportional von Afro-Amerikanern bevölkert sind. Die Bevölkerung in Fergusson fordert zu Recht Gerechtigkeit von einer Gesellschaft, die immer noch gegen Schwarze anders vorgeht, als gegen Weiße. Das ist einfach eine Tatsache. Allerdings kommen in Ferguson unterschiedliche Umstände zusammen. Die Bevölkerungsstruktur hat sich in dem Ort in den letzten Jahren deutlich verändert, es sind sehr viele Afro-Amerikaner zugezogen, Weiße weggezogen. Es gibt Spannungen in der Bevölkerung, die die Ängste im Zusammenleben noch gesteigert haben. Es ist sehr wichtig zu sehen, dass die Umstände der Tat weiter ungeklärt sind. Deswegen ist ja auch der Justizminister angereist, um Gespräche zu führen mit den Ordnungshütern und der Bevölkerung. Er ist besonders profiliert im Bereich der Bürgerrechte, und hier soll eine Untersuchung stattfinden, die unabhängig und umfassend ist. Das ist das, was bei den Protesten zu Recht gefordert wird.
domradio.de: Wie weitreichend ist das Problem des Rassismus in der amerikanischen Gesellschaft?
Prof. Sielke: Das Problem des Rassismus existiert in den USA natürlich weiter, wie auch an anderen Orten, auch wenn sich vieles verändert hat. Wir Europäer sind immer schnell dabei, zu meinen, seit den 50er Jahren hätte sich in den USA nicht viel verändert. Die Rassenunruhen in Ferguson erinnern ja auch an Bilder aus dieser Zeit. Das ist aber nicht der Fall, es hat sich sehr vieles verändert. Gleichzeitig ist die Geschichte des Rassismus nicht einfach zu überwinden, so wie wir in Deutschland die NS-Geschichte nicht einfach überwinden können, aber mit der wir mit der Zeit anders umgehen können. In den USA hat es den Begriff einer "Post Racial Society" gegeben und Obama steht für einige als Symbol einer solchen Gesellschaft, die die Rassen nicht mehr unterscheidet. Eine solche Gesellschaft kann es aber grundsätzlich nicht geben, wenn man eine Erinnerungspolitik pflegt, die das Gedenken an historisch erlittenes Leid bewahren will. Rassismus ist immer auch abhängig von ökonomischen Bedingungen. Die Ungleichheit in den USA nimmt zu, die Schwere zwischen Arm und Reich ist zunehmend auseinandergegangen, und das führt zu Spannungen, die dann besonders heftig sind, wenn sie eine lange und sehr leidvolle Geschichte haben. Das ist im Fall der Rassenbeziehungen in den USA der Fall. Es kommt dazu, dass andere ethnische Gruppen z.T. erfolgreicher sind als die Afroamerikaner, wie z.B. Schwarze aus Westafrika und Asiaten, die erfolgreicher in die amerikanische Gesellschaft integriert werden. Aus den verschiedensten Gründen. Da empfinden sich die Afro-Amerikaner immer wieder und erneut im Hintertreffen, da entlädt sich eine Wut, die eine lange Geschichte hat.
Das Interview führte Christian Schlegel.