KNA: Herr Neher, viele Städte und Kommunen stöhnen, dass sie keine weiteren Kapazitäten zur Unterbringung und Integration von Flüchtlingen haben. Wie wollen Kirche und Caritas helfen?
Neher: Ich bin froh, dass an ganz vielen Stellen konkrete Unterstützung läuft. Viele engagierte Menschen aus der Kirche haben Wohnraum zur Verfügung gestellt. Die Caritas-Migrationsdienste sind aktiv, vielerorts vernetzt mit ehrenamtlichen Helfern. In Köln haben wir ein Zentrum für Folteropfer, wo traumatisierte Menschen begleitet werden können. Und dann haben wir die vielen Caritas-Beratungsdienste, die seit jeher für die Flüchtlinge bereit stehen.
KNA: Zuletzt jagte ein Krisen-Flüchtlingsgipfel den nächsten. Hätte die Politik nicht schon früher und couragierter reagieren können?
Neher: Dass viele Kommunen bei der Integration von Flüchtlingen Probleme haben, sehe ich wohl. Aber das ist auch Ergebnis einer Politik, die jahrelang Notunterkünfte und Infrastruktur für Schutzsuchende abgebaut hat. Hinzu kommt, dass die Flüchtlingsproblematik nicht vom Himmel gefallen ist. Der Bürgerkrieg in Syrien tobt nun schon seit 2011. Es war schon länger absehbar, dass es Flüchtlingsströme geben wird. Passiert ist lange nichts. Und ich warne auch vor dem Trugschluss, die steigenden Flüchtlingszahlen seien ein schnell vorbeiziehender Orkan. Angesichts der weltweiten Kriege und angesichts des Klimawandels werden wir auch in Zukunft weltweite Flüchtlingsströme in großem Ausmaß haben.
KNA: Brauchen wir also ein grundlegendes Umdenken in der deutschen und europäischen Flüchtlingspolitik?
Neher: Die Dublin-Verordnungen in ihrer jetzigen Form, wonach Asylanträge nur in dem EU-Land gestellt werden können, das die Flüchtlinge zuerst erreichen, taugen letztlich nicht, um den Flüchtlingen menschenwürdig gerecht zu werden. Wir brauchen eine europäische Flüchtlingspolitik, die diesen Namen verdient. Es kann nicht sein, dass Länder wie Deutschland, die nur Binnengrenzen haben, die Probleme weitgehend den Staaten mit EU-Außengrenzen überlassen.
Das muss sich ändern. Eine Forderung ist, dass Flüchtlinge selbst entscheiden können, wo sie ihren Asylantrag stellen. Finanziell muss man dann für Ausgleich sorgen, denn Geld kann man sehr viel leichter verschieben als Menschen.
KNA: Viele mahnen aber, Deutschland könne schließlich nicht alle Flüchtlinge aufnehmen. Vielmehr müssten in den Krisenstaaten selbst die Ursachen der Flucht angegangen werden?
Neher: Das ist natürlich ein wichtiger Punkt. Wir engagieren uns auch hier, etwa durch die Arbeit unseres Hilfswerks Caritas international.
Jedoch sollten wir realistisch bleiben. Wenn man sich die desaströse Lage in Ländern wie Libyen oder Somalia anschaut, da wäre es doch unredlich zu meinen, wir wären in der Lage, für Bedingungen zu sorgen, dass niemand mehr über das Mittelmeer kommt. Grundsätzlich ist es aber von hoher Bedeutung, zu investieren, damit Menschen in ihren Heimatstaaten eine Zukunft haben. Dazu gehört auch, in Krisenstaaten eine gute Regierungsführung zu befördern.
KNA: Papst Franziskus sprach vor dem Europaparlament vom Mittelmeer als Friedhof. In den vergangenen zwölf Monaten ertranken dort so viele Flüchtlinge wie nie zuvor. Dennoch hat die EU, beziehungsweise Italien, den Rettungseinsatz "Mare Nostrum" eingestellt. Verhallen die Appelle der Kirchen ungehört?
Neher: Wir dürfen einfach nicht nachlassen. Papst Franziskus hat wichtige Zeichen gesetzt, etwa seine erste Reise nach Lampedusa. Das war eine politische Mahnung, aber auch Ermutigung für all diejenigen, die in der Flüchtlingsarbeit engagiert sind. Wir müssen weiter die Stimme erheben gegen eine Globalisierung der Gleichgültigkeit, wie Papst Franziskus sagte.
Das Interview führte Volker Hasenauer.