domradio.de: Was war Ihre erste Reaktion auf Merkels Entscheidung für eine neue Kanzlerkandidatur?
Volker Resing (Chefredakteur von Herder-Korrespondenz und Merkel-Biograph): Ich habe mich auch erst einmal gefreut, denn in dieser polarisierten Situation, in der sich Deutschland und Europa befindet, ist es vielleicht doch richtig, dass Merkel jetzt ihre Politik noch einmal verteidigt und unter Beweis stellt. Alles andere hätte doch ein bisschen nach Davonlaufen ausgesehen. In ruhigeren Zeiten hätte sie vielleicht einen Wechsel herbeiführen können, aber jetzt bin ich auf einen Wahlkampf mit ihr gespannt.
domradio.de: Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach für diese Entscheidung Ihr Hintergrund als Pfarrerstochter? Vielleicht so etwas wie einen typisch protestantischen Impuls zur Pflichterfüllung?
Resing: Ich bin fest davon überzeugt, dass ihr protestantischer Hintergrund auf ihre Politik einen Einfluss hat. Das hat mit einer gewissen Strenge und auch mit Pflichterfüllung zu tun. Ich glaube nicht, dass sie so am Amt klebt, sondern ernsthaft auch an einen Rückzug gedacht hat, aber dann einfach nüchtern abgewogen hat, ob es ihrer Partei nutzt, wenn sie antritt oder nicht antritt. Und natürlich nutzt es der Partei mehr, wenn sie antritt. Also, die Pfarrerstochter hat von ihrem Vater eine strenge und nüchterne Art mitbekommen.
domradio.de: Ihr Engagement für offene Grenzen in Europa und eine humane Aufnahme von Flüchtlingen hat Angela Merkel auch viel Zuspruch von den beiden großen Kirchen eingebracht, aber auch heftige Kritik. Wie wird Angela Merkel im Wahlkampf mit diesen Themen umgehen?
Resing: Zum einen ist wichtig zu sagen, dass Angela Merkel mit der Flüchtlingskrise nicht erst ihr Christentum entdeckt hat und es dann an der Garderobe wieder abgibt, wenn sie jetzt stärker die Grenzen kontrollieren lässt oder für eine Begrenzung der Flüchtlingszahlen eintritt. Sicher wird sie mit diesen Fragen im Wahlkampf konfrontiert werden. Sie will aber andere Akzente setzen. Zum Beispiel einen starken wirtschaftspolitischen Akzent. Sie will die Menschen daran erinnern, dass unser Wohlstand, in dem wir uns im Moment befinden, durch Globalisierung und Digitalisierung gefährdet ist. In den nächsten vier Jahren ihrer Kanzlerschaft will sie sich darum mit starken marktwirtschaftlichen Akzenten kümmern. Und das wird nicht allen ihren neuen Freunden ihrer Flüchtlingspolitik gefallen und bei ihren rot-grünen Sympathisanten eher für Irritation sorgen.
domradio.de: Gerade die sogenannten Globalisierungsgegner reagieren kritisch auf Angela Merkels Politik. Müsste sie sich da nicht als überzeugte Christin viel stärker gegen ungehemmten Kapitalismus und für mehr soziale Marktwirtschaft einsetzen?
Resing: Sicherlich setzt sie sich gegen ungehemmten Kapitalismus und für soziale Marktwirtschaft ein. Aber was christliche Marktwirtschaft ist und was nicht, ist natürlich stark umstritten. Es gehört eher zur Tradition der Bundesrepublik, eine marktwirtschaftliche und damit auch kapitalistische Orientierung, die durch soziale Maßnahmen kontrolliert ist, auch als christlich anzusehen. Es wäre sicherlich falsch, umgekehrt den Schluss zu ziehen, dass jede Kapitalismuskritik schon christlich ist. Also das Etikett christlich ist hier gefährlich. Ich glaube, Merkel macht Politik aus einer christlichen Grundhaltung heraus, die aber in diesem Fall auch sehr stark auf Leistungsbereitschaft und Marktwirtschaft setzt. Das dies auf Kritik aus Teilen der Kirchen stößt, ist ihr immer bewusst gewesen und da wird sie auch nicht davor zurückschrecken, nur weil sie zurzeit wegen ihrer Flüchtlingspolitik so viel Sympathie bei den Kirchen genießt.
Das Interview führte Hilde Regeniter