Die Stiftskirche schlägt 12.00 Uhr, als Gertrud Matheis ihren Nepomuk endlich wieder hat. "Er muss wieder schön aufpoliert werden", sagt die 72-Jährige und streicht über die rissige Hand der steinernen Heiligenfigur. Vier Wochen nach der Hochwasserkatastrophe an Erft und Ahr blickt sie nach vorn: "Wenn man so etwas Schreckliches durchlebt hat, merkt man, dass es auch weitergeht."
Altar für Prozessionen
Schon als Zehnjährige hat Matheis das Heiligenhäuschen in der historischen Innenstadt von Bad Münstereifel mit ihrer Tante gepflegt. Seit mehr als 50 Jahren kümmert sie sich mit ihrem Mann Robert um den Gedenkort mit dem Brückenheiligen Johannes von Nepomuk. Jährlich zu Fronleichnam und zur Kirmes schmückten sie dort den Altar für die Prozession. Doch der 14. Juli 2021 machte diese Tradition vorerst zunichte.
Schier unglaubliche Wassermassen verwüsteten den sonst so idyllischen Eifelort mit seiner mittelalterlichen Stadtmauer. Die nordrhein-westfälische Kurstadt ist seit Jahrzehnten ein Touristenziel - mit Heino-Cafe und Outlet-Center in einem gewachsenen Ortskern. In nur wenigen Stunden schwoll das Flüsschen Erft zu einem reißenden Strom, trat über die Ufer und schoss schließlich durch die Straßen und Gassen. Sehr viele Geschäfte, Wohnungen und Cafes wurden überflutet. Fünf Menschen kamen bei der Flut im Stadtgebiet ums Leben.
"Wie harmlos das Bächlein jetzt wieder fließt ..."
Einen Bergrücken weiter im Ahrtal hat es die Bewohner noch dramatischer getroffen. 133 Menschen starben in der Region. Häuser und Ortsteile verschwanden in den Fluten. Viele Ahrbrücken wurden weggerissen. Darunter auch die älteste, die Nepomuk-Brücke im Weinort Rech, die das Hochwasser von 1910 als einzige überstanden hatte.
Gertrud Matheis steht neben einem Krater an der Erftmauer. In der Luft hängt immer noch ein staubiger, leicht modriger Schleier. "Wie harmlos das Bächlein jetzt wieder fließt ... da bekomme ich wieder die Wut", sagt sie und deutet in Richtung des Platzes, wo Nepomuk einst stand. Das Hämmern eines Schlagbohrers unterbricht sie - und das monotone Gebrumme der Bautrockner, das aus den bis auf das Fachwerk entkernten Erdgeschossen schallt.
Zu Beginn des Starkregens sei sie mit ihrem Mann zu einem Haus, das ihnen gehört, um nach dem Rechten zu schauen - nur einen Steinwurf entfernt, erzählt Matheis. Da sei noch alles in Ordnung gewesen. Aber am Morgen nach dem Hochwasser stand sie vor dem komplett überfluteten Haus und sah sofort, dass Nepomuk und sein Häuschen weggerissen waren. "Da fing ich an zu weinen", sagt sie, und erneut steigen Tränen in ihre Augen. "Das war der Tropfen, der das Fass für mich zum Überlaufen gebracht hat."
Schwierige Tage folgten. Bis zu einem Anruf: "Ihr Nepomuk ist wieder da!" Ordnungsamtsmitarbeiterin Petra Schneider-Jonas erinnert sich an den Moment, als sie Matheis die frohe Kunde überbringen durfte. Die Statue sei im Flussbett wenige Meter neben dem ursprünglichen Standort aufgetaucht, als das Wasser wieder gesunken war. Schneider-Jonas bat darum, dass ein Bundeswehrsoldat hinabstieg, um Nepomuk zu bergen. Ein Mann reichte nicht aus, die zentnerschwere Figur aus dem Flussbett zu heben. Mit einem Seil um den Hals zogen mehrere Soldaten den Heiligen die vier Meter hohe Erftmauer hoch.
Die Seele beim Bier freireden
"Für mich war das ein Lichtblick in dieser schlimmen Zeit", berichtet Jonas-Schneider am Abend auf dem Rathausplatz, wo sich Helfer und Einwohner nach Stunden des Schuftens die Seele bei einem Bier freireden. Nach der Katastrophe seien hoffnungsbringende Momente wichtig. Eine weitere Nepomuk-Statue auf der Werkbrücke im oberen Ortsteil symbolisiere dies ebenfalls. "Auf einem Video im Netz sieht man, wie die Wassermassen durch die Torbögen über die Brücke schießen, doch der Nepomuk hält stand und überlebt die Flut", so die 57-Jährige.
Der Schutzheilige konnte die Zerstörungen zwar nicht verhindern - aber auf gewisse Weise stiftet er offenbar Hoffnung. "Überall ist eine große Hilfsbereitschaft und Solidarität zu spüren", beschreibt Robert Matheis die Lage nach dem Hochwasser. Ein Erlebnis habe ihn besonders beeindruckt: "Ein Mann, der alles verloren hatte, kam in eins der Hilfszentren, um sich Kleidung und auch Schuhe zu besorgen. Aber in seiner Größe 49 war kein Paar zu finden. Da zog ein Soldat seine Stiefel aus und sagte: 'Nehmen Sie bitte die, die passen Ihnen, und ich fahre auf Socken weiter!'. Das ist für mich der heilige Martin der Neuzeit", sagt Matheis mit einem Strahlen, das trotz der Trümmer und des Drecks in vielen Gesichtern zu sehen ist.
Jeder grüßt hier jeden - Bewohner, Mitarbeiter des Technischen Hilfswerks, Bundeswehrsoldaten, Freiwillige. Das rote Rathaus ist das Schaltzentrum. Ein großes Banner hängt an der Fassade: "Danke an alle Helfer". Hier werden die Freiwilligen eingeteilt und verpflegt; die Turnhalle der Grundschule nebenan hat alles, was die Betroffenen brauchen: Konserven, Windeln und aufmunternde Worte. "Es ist von Beginn an ein großer Zusammenhalt zu spüren gewesen", sagt Bürgermeisterin Sabine Preiser-Marian (CDU) beim Ortsbesuch der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). "Egal welche Religion, welche Parteizugehörigkeit oder sonstige Verschiedenheiten, jeder hat jedem geholfen."
Nach der Zeit des ersten Aufräumens - das noch nicht abgeschlossen sei -, richteten sich die Gedanken jetzt auf den Wiederaufbau. "Die Energie, die unter den Helfern zu spüren ist, muss weiter gebündelt werden", sagt Preiser-Marian, während krachend Schutt in einen Container gekippt wird. Der extreme Geräuschpegel ist für alle Beteiligten inzwischen Gewohnheit. Miteinander und Transparenz seien nun wichtig. "Die Heimatliebe, die sich in der Nächstenliebe gezeigt hat, muss nun auch für den Wiederaufbau genutzt werden."
Hilfe bieten auch die Kirchen
Nach vier Wochen zeigten sich aber auch psychische Auswirkungen - "das Adrenalin der ersten Tage verschwindet, und eine Ernüchterung schlägt durch", betont Preiser-Marian. Hilfe bieten auch die Kirchen. Zügig hätten sie ein gemeinsames Akuthilfe-Zentrum aufgebaut, um die seelischen Nöte aufzufangen, sagt der katholische Pfarrer Christian Hermanns. Die beiden Kirchen im Ort sind weitgehend verschont geblieben - in Dörfern des Stadtgebietes wie Iversheim oder Eicherscheid nicht.
Hermanns führte den Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki eine Woche nach der Flut durch die Stadt - zwei Tage, nachdem auch Kanzlerin Angela Merkel (CDU) die Eifeler besucht hatte. Hermanns, der eigentlich zum September nach Bergheim wechseln sollte, bleibt mit Einverständnis Woelkis bis Januar 2022 in der Eifelgemeinde, denn er "kann die Menschen nicht allein lassen".
Woelki sicherte zudem weitergehende Unterstützung zu - auch für das erzbischöfliche St.-Angela-Gymnasium. Das Erdgeschoss der Schule stand unter Wasser. Der Schaden wird auf sechs Millionen Euro geschätzt. Nach den Ferien geht es erst einmal mit Distanzlernen weiter - auch für Joe Matheis (48). Der Sohn von Gertrud Matheis ist Lehrer an dem Gymnasium.
Seinen Urlaub brach er ab, als seine Mutter ihn über die Katastrophe informierte. Seither hat er täglich mitangepackt und Unterstützung bekommen. "(Gute und weniger gute) Bekannte und 'Fremde', die einem nach wenigen Minuten ganz nah sind, aus dem Norden und dem Süden, dem Osten und dem Westen. Aus Göttingen und Frankenthal, aus dem Elsass und aus Tschetschenien", postete er zwischendurch. "Ich bin überwältigt von dieser Hilfsbereitschaft", sagt er.
Und Nepomuk? Die Soldaten brachten die Figur in den Garten des Pfarrhauses, wo Gertrud Matheis früher in der Verwaltung tätig war. Zum ersten Mal nach der Flut sieht sie die knapp einen Meter große Figur. "Das Kreuz ist abgebrochen, und dreckig ist er, aber das Birett ist heile geblieben", freut sie sich - und zieht eine Parallele zu Johannes von Nepomuk, der 1393 in Prag als Generalvikar im Zwist mit dem böhmischen König Wenzels IV. in die Moldau geworfen wurde. "Eine Legende besagt, nachdem Nepomuk in der Moldau ertrank, sei der Fluss plötzlich ausgetrocknet, und deswegen wurde die Leiche des späteren Heiligen gefunden. Auch unser Nepomuk ist wieder aufgetaucht, und wir können ihn wieder herrichten."