Bischofskonferenz kündigt nach Bekanntwerden von Missbrauchsfällen Konsequenzen an - und warnt vor Überreaktionen

"Pflicht zur Selbstprüfung"

Die Zahlen seien "ungeheuerlich", schreibt der "Spiegel": In den vergangenen Jahren habe es in deutschen Bistümern über 90 Verdachtsfälle auf Kindesmissbrauch gegeben. Die Katholische Kirche in Deutschland sei "erschüttert". Die Bischöfe reagieren und kündigen Konsequenzen an. Gleichzeitig warnen sie vor "Überreaktionen". Ein rennomierter Kriminalpsychologe verteidigt den Klerus.

 (DR)

Die vom "Spiegel" veröffentlichten Zahlen über kirchliche Missbrauchsfälle zeigen nach Ansicht des Kriminalpsychiaters Hans-Ludwig Kröber, dass sexueller Missbrauch bei Mitarbeitern der katholischen Kirche sehr viel seltener vorkommt als bei anderen erwachsenen Männern. Dem domradio sagte Kröber am Montag, die vom Spiegel ermittelten Zahlen legten nahe, dass die Geisteshaltung, in der Priester lebten, sie weitgehend davor schütze, Täter zu werden. Kröber arbeitet als Professor für forensische Psychiatrie an der Berliner Charite und ist Mitherausgeber des Standardwerks "Handbuch der Forensischen Psychiatrie".

Nichtzölibatär lebende Männer werden laut Kröber mit einer 36 mal höheren Wahrscheinlichkeit zu Missbrauchstätern als katholische Priester. Insgesamt habe es seit 1995 in Deutschland rund 210.000 polizeilich erfasste Fälle von Kindesmissbrauch gegeben. Im Vergleich dazu sei die vom "Spiegel" in einer Umfrage ermittelte Zahl von 94 Verdächtigen innerhalb der katholischen Kirche verschwindend gering.

Es bestehe die Gefahr, dass die katholische Kirche in Deutschland ähnlich wie vor einigen Jahren in den USA in einen "Selbstgeißelungs-Furor" gerate und aus Angst vor neuem Unrecht an vermeintlichen Opfern alle Anschuldigungen ungeprüft akzeptiere. Aber auch angebliche Opfer müssten hinnehmen, dass man ihre Vorwürfe prüfe, so Kröber.

Bischöfe: Leitlinien prüfen
Die katholischen deutschen Bischöfe schließen Änderungen in der Ausbildung und Begleitung der Priester angesichts der jetzt bekanntgewordenen Fälle von Kindesmissbrauch durch Geistliche des Jesuitenordens nicht aus. "Wir müssen uns fragen, ob die Leitlinien der Bischöfe von 2002 zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch durch Geistliche bereits optimal umgesetzt werden.
Vielleicht muss die Prävention trotz aller Fortschritte noch besser werden", sagte Pater Hans Langendörfer, der Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz, im Interview der "Frankfurter Rundschau" (Samstag). Zugleich warnte er vor "angstgeprägten oder von Ressentiments geleiteten Überreaktionen". Bisher kenne er noch keinen Vorschlag zur Erweiterung der bischöflichen Richtlinien "wegen fundamentaler Mängel".

Die Kirche steht nach den Worten Langendörfers, der selbst Jesuit ist, in der ständigen Pflicht der Selbstprüfung und dürfe sich "nicht an ihr vorbeimogeln". Er wehre sich jedoch gegen manche Stimmen, die jetzt ohne weiteres Nachdenken die katholische Moral und den Zölibat der Priester zu Schuldigen am sexuellen Missbrauch durch Geistliche stempeln wollten. Ganz offensichtlich, so der Sekretär der Bischofskonferenz, gebe es "Schweigespiralen und Angst vor Skandalen", jedoch nicht nur in der Kirche, sondern in der ganzen Gesellschaft. Lange sei in der Gesellschaft insgesamt die Tragweite pädophiler Neigungen völlig falsch eingeschätzt worden.
Die Kirche habe dazugelernt und wolle Aufklärung.

Kontakt und Gespräch mit Opfern
Jetzt müssten gemeinsam, auch in der Bischofskonferenz, die Konsequenzen überlegt werden, erklärte Langendörfer weiter. "Wir müssen ja erst klären und verarbeiten, was vorgefallen ist." Vordringlich erscheint ihm, "dass wir uns den dunklen Seiten der Kirche stellen und uns dennoch nicht davon abbringen lassen, uns über ihre guten Seiten zu freuen." Gegen die Kritik am Zölibat wandte er ein, dieser müsse vom Glauben her verstanden werden. Der Zölibat sei kein Instrument zur Vermehrung von Arbeitskraft oder zur Steuerung der eigenen Sexualität. Daran werde in den Priesterseminaren gearbeitet. Langendörfer: "Der Zölibat schafft keine Missbrauchstäter. Wir sind es den Opfern und vielen untadeligen Seelsorgern schuldig, gründlich hinzuschauen, statt eilfertige Thesen aufzustellen.

Eine Wiedergutmachung beginnt nach den Worten des Sekretärs der Bischofskonferenz mit der Möglichkeit des Opfers, sich "aus der tiefen Einsamkeit ungewollten Schweigens über sein Leiden zu befreien". Deshalb seien für die Kirche der Kontakt und das Gespräch mit den Opfern so wichtig. Wiedergutmachung beginne auch mit der Bitte um Entschuldigung in der Hoffnung, "dass sie irgendwann einmal angenommen wird". Menschliche, therapeutische und seelsorgliche Hilfen seien konkrete Zeichen der Wiedergutmachung. Was hier möglich und nötig sei, müsse in jedem Einzelfall geprüft werden.

"Spiegel": Umfrage in Bistümern
Der "Spiegel" berichtet in seiner neuesten Ausgabe von insgesamt 94 Klerikern und Laien, die seit 1995 unter Missbrauchsverdacht geraten seien. Dies habe eine Umfrage das Magazins in allen 27 deutschen Bistümern ergeben. Von diesen Verdächtigten seien 30 in der Vergangenheit juristisch belangt und verurteilt worden.

Viele dieser Missbrauchsfälle, berichtet der "Spiegel", seien zum Zeitpunkt ihres Bekanntwerdens jedoch bereits verjährt gewesen. Gegenwärtig stünden mindestens zehn Kirchenmitarbeiter unter Missbrauchsverdacht.