Joachim Gauck zur Kraft des Glaubens

"Furcht rettet nicht"

Einen Tag vor der Wahl eines neuen Bundespräsidenten hat der Kandidat von SPD und Grünen, Joachim Gauck, die Kirchen zu Gelassenheit im Umgang mit gesellschaftlicher Säkularisierung ermuntert. Die Kirchen sollten sich auf die Kraft ihrer Botschaft und die Glaubwürdigkeit besinnen.

 (DR)

KNA: Herr Gauck, in eigentümlicher Weise begleiten viele Menschen in Deutschland Ihre Kandidatur mit Sympathie. Wie empfinden Sie das?
Gauck: Da macht sich - aus ganz verschiedenen Teilen der Bevölkerung - an meiner Person so etwas wie Hoffnung oder Sehnsucht fest. Ich bekomme zum Beispiel Unterstützung aus der Netzgemeinde, von Menschen, die ich gar nicht kenne. Sie sagen mir, die Währung im Internet sei Authentizität. Das zeigt das Bedürfnis nach Glaubwürdigkeit. Die Menschen wollen also glaubwürdige Institution und Politiker.

KNA: Weil Glaubwürdigkeit der Politik derzeit fehlt?
Gauck: Jedenfalls scheinen die Menschen Vertrauen in unser Land und das Gesellschaftssystem zu haben, in dem dem sie sich beheimatet fühlen. Es gibt aber ein Grundbedürfnis nach Verortung. Das muss viele interessieren, nicht nur Politiker, sondern auch Eltern, Lehrer, Kirchen. Wie können wir in einem demokratischen Land das Gefühl verstärken: Das ist auch meine Heimat?

KNA: Sie nennen auch die Kirchen. Deutschland ist auf dem Weg in eine säkularisierte Gesellschaft. Ein Drittel der Menschen gehört keiner Religion an.
Gauck: Mich erschreckt diesbezüglich eine Minderheitensituation nicht mehr. Man mag zwar in eine Minderheit geraten, aber das bringt uns Christen nicht um unseren Kern, um unsere Kraft und Glaubwürdigkeit. Und diese Erfahrung können wir in die sich mehr und mehr säkularisierende Gesellschaft einbringen: Dass die Treue zu unseren Werten auch dann nicht in Frage gestellt wird, wenn wir in die Minderheit geraten.

KNA: Kirchen scheinen aber in der ängstlichen Suchbewegung.
Gauck: Das ist sicher eine Herausforderung: Wenn überkommene Formen der Vermittlung in Familien oder Gemeinden nicht mehr gelingen, brauchen wir Phantasie und einen, tja, einen Glaubensmut, der eben nicht Angst für den besten Ratgeber hält. Das ist doch wie in der Politik. Wer sich fürchtet, kann sich entweder ängstlich um die Reste, um das Dogma versammeln - oder er kann die alten Geschichten innovativ erzählen und damit tagtäglich zeigen: Ich lebe aus einer Kraft, die mich bisher nicht verlassen hat. Das wird immer einladend wirken. Deshalb sind mir Strategien der Angst stets suspekt. Sie haben auch nichts mit christlichem Glauben zu tun. Der Glaube lebt eben von einem ungeheuren Ja, das er sogar gegen die Evidenz des Todes ausspricht.

KNA: Wie sehr hat Sie das in Ihrer Existenz zu DDR-Zeiten geprägt?
Gauck: Die DDR-Jahre sind ja nicht das Allerschlimmste, was Glaubenden zugemutet wurde. Sicher, viele Jugendliche und Erwachsene wurden damals diskriminiert. Aber wir wurden ja nicht hingemetzelt. In anderen Staaten hat der Kommunismus wirklich Märtyrer geschaffen. Und trotzdem hat sich der Glaube auch dort wieder erholt und als Kraft erwiesen. Und das ist keine Geschichte aus dem Mittelalter, sondern aus der politischen Neuzeit. Dazu gehört diese so unglaublich Kraft spendende Botschaft der Heiligen Schrift, die Johannes Paul II. in seiner besonderen Weise den Menschen, die tief in der Furcht standen, eingeprägt hat: Fürchtet Euch nicht!

KNA: Da merkt man nun, dass Sie auch Prediger sind.
Gauck: Die Geschichte lehrt jedenfalls, dass die Kirchen Vertrauen nicht in Angst und Flucht setzen sollten, sondern in das Ja zum Leben. Eine Rückzugsmentalität hilft den Kirchen genauso wenig wie Imagepflege. Wenn Kirchen oder Christen schuldig geworden sind - wir haben das in der Stasidebatte erlebt, wir erleben das jetzt in ganz anderer Weise in der Missbrauchsdebatte - lässt sich noch durch die beste Imagepflege kein Schaden heilen. Aber Christen wissen: Wir sind schuldfähig, wir werden auch schuldig. Aber es gibt Möglichkeiten der Umkehr, der Reue, der Verwandlung.

KNA: Und Sie meinen, auch säkular geprägte Menschen könnten damit etwas anfangen?
Gauck: Dieses Wissen gibt es doch nicht nur als religiöses Wissen, das gibt es auch als tiefe politische Gewissheit. Letztlich ist es eine große Kraft, die die Glaubensgemeinschaft und die Bürgergesellschaft verbindet: Wir sind nicht nur Verfügungsmasse eines Schicksals oder Gottes. Sondern wir sind gesegnet mit einer elementaren Kraft zur Gestaltung. Und das entspricht der Freiheit als einer "Freiheit zu etwas". Wenn die Kirchen für diese kraftvolle Botschaft stehen, brauchen sie nicht zu fürchten, dass es eines Tages keine Christen mehr gibt.

KNA: Sie nannten eingangs die Frage der Beheimatung des modernen Menschen. Wie kann die deutsche Gesellschaft, die ja Zuwanderung braucht, das schaffen angesichts der Integrationsprobleme, der Anfragen durch den Islam, auch der Verunsicherung in Krisenzeiten?
Gauck: Bei all meinen Besuchen in den Vereinigten Staaten hat mir eins dort mächtig imponiert: die Offenheit gegenüber Menschen, die eingewandert sind. Die gesamte Geschichte der USA ist geprägt davon, dass sie stets ein offenes Land war. Überall treffen sie dort Leute aus Afrika oder Asien, die erst zwei oder drei Jahre dort sind und doch strahlend sagen: Das ist mein Land. Sie sind beheimatet. Das sollten wir auch schaffen. Nicht allein wegen der demografischen Gründe. Die sind etwas für den Verstand. Wir sollten uns erinnern: Furcht rettet nicht. Furcht verengt unsere Augen, unsere Phantasie und damit die Bereitschaft zu gestalten. Wenn wir dagegen eine größere Bereitschaft zur Offenheit trainieren, dann wird das in den Zuwanderer-Communities die Tendenz abbauen, sich abzuschotten und Gegenkulturen zu errichten. Sicher, solche Gegenkulturen dürfen wir nicht dulden. Deshalb müssen wir Verbündete in diesen Gesellschaften stärken. Aber vor allem müssen wir als Mehrheitsgesellschaft eine entschiedene Offenheit zeigen.

Das Gespräch führte Christoph Strack.