domradio.de: Der Papst hat für seine Aussage zur Homosexualität viel Beifall bekommen. Sie sind Psychotherapeut und Seelsorger. Wie ist diese Aussage bei Ihnen angekommen?
Müller: Zunächst habe ich gedacht, ich höre nicht richtig. Letztlich ist das von den kirchlichen Dokumenten her ja nichts Neues, aber dass es ein Papst so klar formuliert, das fand ich doch sehr schön. Das hat mich sehr gefreut. Wenn ich mich an das Interview von Papst Benedikt XVI. mit Peter Seewald erinnere, da ist z.B. die Rede davon, dass Homosexualität moralisch falsch sei, dass sie etwas sei, das gegen das Wesen dessen steht, was Gott ursprünglich gewollt hat. Das ist bei Franziskus nun ein anderer Ton, der hier durchschlägt, und das fand ich das Erfreuliche.
Die Kirche fordert ja stets, Homosexuellen mit Respekt zu begegnen. Aber dass ein Papst das in dieser Deutlichkeit so ins Wort bringt und in dieser Bescheidenheit sagt: "Wenn jemand mit gutem Willen sucht, wer bin ich, dass ich ihn verurteile?" Das habe ich noch nie von einem Papst gehört.
domradio.de: Nun hat der Papst auch von einem homosexuellen Netzwerk im Vatikan gesprochen. Das hat viele überrascht. Aber er hat auch gesagt, dass nicht die Homosexualität das Problem sei, sondern die Bildung von Seilschaften.
Müller: Wenn von einer homosexuellen Seilschaft im Vatikan die Rede ist, dann meint man ja, das seien Priester und Prälaten, die homosexuell sind, das aber nach außen hin nicht zugegeben, und sich gegenseitig Vorteile verschaffen, z.B. was Posten angeht. Das hat mit der Homosexualität zunächst einmal gar nichts zu tun, es ist wichtig, das zu unterscheiden von homosexuellen Priestern an sich, die z.B. in der Seelsorge tätig sind. Franziskus hat hier den deutlichen Unterschied herauskristallisiert, dass Homosexualität und homosexuelle Seilschaften in dem Sinne gar nichts miteinander zu tun haben.
domradio.de: Für schwule Priester gelte genauso das Zölibat, wie für alle Priester, hat Franziskus unter Verweis auf den Katechismus gesagt. Nach dessen Maßgabe sei die homosexuelle Veranlagung an sich nicht sündhaft, sondern das Praktizieren der Homosexualität.
Müller: Von Priestern wird verlangt, dass sie bezüglich auf das Ausleben ihrer Sexualität verzichten müssen. Wie es überhaupt von jedem, der zölibatär lebt, verlangt wird, dass er darauf verzichtet. Die Konsequenz dessen, was der Papst hier sagt über Homosexualität, könnte doch aber auch darin bestehen, dass in Zukunft auch homosexuelle Männer, die verantwortlich mit ihrer Sexualität umgehen können, zu Priestern geweiht werden dürfen. Damit würde dieses Dokument des Vatikans, wonach homosexuelle Männer nicht zur Priestern geweiht werden dürfen, rückgängig gemacht. Das wäre eine Konsequenz aus der Aussage des Papstes.
domradio.de: Sie selbst sind Seelsorger für Priester, die ausgebrannt sind oder mit ihrer sexuellen Orientierung als Homosexuelle nicht zurechtkommen. Wie wichtig ist es für diese Menschen, für Priester, aber auch für alle katholischen Homosexuellen, dass der Papst so etwas sagt?
Müller: Sehr wichtig, weil er damit zum Ausdruck bringt, dass es nicht in allererster Linie um die Homosexualität geht, sondern zunächst einmal um den Menschen. Er bringt zum Ausdruck, dass ein verengter Blick auf die Homosexualität den Blick auf den ganzen Menschen überdeckt, der über die gleichen Gefühle, Sehnsüchte und die gleiche spirituelle Ausstattung verfügt, wie ein heterosexueller Mensch. Ich denke, homosexuelle Menschen erleben das nun als etwas Befreiendes, wenn ein Papst ihnen in dieser Weise begegnet. Wenn er dabei vor allem und zuallererst den Menschen sieht. Und dass die innere Einstellung das Wesentlichere ist.
domradio.de: Können sich homosexuelle katholische Christen in ihrer Kirche geborgen fühlen?
Müller: Letztlich könnten sie das auch heute schon, ja. Die Aussagen des Papstes aber deuten darauf hin, dass er noch vielmehr auf homosexuelle Menschen zugehen will und die Worte des Neuen Testamentes ernst nimmt: "In meinem Haus gibt es viele Wohnungen". Das muss aber dann auch konkretisiert werden, insofern, dass homosexuelle Männer und Frauen die gleichen Positionen innerhalb der Kirche einnehmen dürfen, wie das auch für Heterosexuelle gilt. Da besteht, glaube ich, noch ein Bedarf.
Das Interview führte Monika Weiß.