Diese Woche ist es wieder passiert. "Liebe Fahrgäste. Wegen eines Personenschadens auf der Strecke vor uns, endet unsere Fahrt hier", sagt der Lokführer in einem mit bis unter die Decke vollgestopftem Regionalexpress mit müden Pendlern und –glühweinseligen Weihnachtsmarktbesuchern durch. Ein Aufschrei ging durch den Zug. Von "immer die Bahn" bis "können die sich nicht zu Hause umbringen" war alles dabei. Meistens bin ich eher ein freundlicher Mensch, aber da bin ich aus der Haut gefahren, laut geworden. Ja, wir kämen heute alle später nach Hause. Irgendwer aber wäre gerade so verzweifelt gewesen, dass er nie wieder nach Hause kommt!
Und nein, ich wollte gar nicht den Moralapostel geben – aber darf denn so viel Leid einfach weggeschimpft werden?
Es wurde ein langer Abend. Nichts fuhr mehr. In der Wartezeit habe ich mit dem jungen Lokführer unseres Zuges Kakao getrunken. Acht Jahre ist er bei der Bahn. Dieses Mal hatte es ihn ja nicht erwischt, aber dreimal schon musste er bremsen und wusste: jetzt habe ich jemanden getötet.
Leid gebiert so schnell immer noch mehr neues Leid.
Nicht dass ich etwas gegen den Zauber hätte, den der Advent ja wirklich haben kann. Aber ich kann mir nur zu gut vorstellen: wenn sich über Wochen die Welt auf den Straßen, in den Geschäften, in den Häusern, in eine glitzernde Liebesweihnachtswelt verwandelt, dann kann passieren, dass das eigene Unglück, Leere oder Einsamkeit umso schmerzlicher schreit.
Advent ist nicht nur Gloria in excelsis deo. Advent heißt auch, dass die Sehnsucht nach Glück und das Empfinden von Unglück noch größer werden.
Ich wünsche an diesem dritten Advent dem jungen Lokführer, dass die Bilder in seiner Seele verblassen. Den Angehörigen des "Personenschaden", dass sie nicht verzweifelt die Schuld bei sich suchen. Dem Toten, dass er seinen Frieden gefunden hat.
Und uns allen, dass wir ihn, gerade an Weihnachten, nicht zu eng ziehen: den Kreis unseres Lebens.