Als mein Jüngster im Kindergarten gefragt wurde, was die Mama denn gut könne, hat er gesagt: lesen.
Stimmt. Immer schon habe ich gelesen, alles, Texte auf Verpackungen inklusive.
Vieles von dem, was ich so lese, zieht vorüber, wie Wolken und Wetter am Himmel. Ist nützlich, oder auch nicht. Nett, oder auch nicht. Das weiß man ja vorher nie.
Was ich aber nie vergesse ist, wenn ein Wort oder ein Satz plötzlich in all den Wortwolken aufgeht, als ob die Sonne plötzlich einen grauen Winterhimmel aufbricht und einen Fleck helles, strahlendes Licht taucht.
So ein Satz stand, wie mit Leuchtfarbe gemarkert, in einem Zeitschriftenartikel im Frühjahr herum: Untersuchen ist Liebe.
Kennen Sie das, wenn Ihnen ein Wort oder ein Satz mitten ins Herz fällt? Bis ganz tief unten?
Ja: Untersuchen ist Liebe. Übergangslos fielen mir viele Situationen ein, in denen, statt etwas zu unterstellen, anzunehmen, besser oder immer schon zu wissen, die Dinge zu untersuchen, diese Dinge in ein anderes Licht tauchten.
So wie im April 2016. Morgens, beim ehrenamtlichen, kostenlosen Frühstück vor der Schule, hatten zwei Geflüchtete gefehlt, das Frühstück fiel dann mal, wieder, aus. Von: wir haben es ja gewusst, die wissen eben nicht, was Pünktlichkeit ist usw. usf. hörte ich alles in meinem Kopf, was die Bedenkenträger vorher immer schon gewusst hatten.
Ich wollte nicht, dass Sie Recht behielten, stieg ins Auto. Suchte in der Sammelunterkunft das Zimmer, in dem die drei syrischen Geschwister, damals 12-20 Jahre alt, wohnten. Hinter der Türe: verweinte, übermüdete Gesichter: die ganze Nacht hätten sie am Handy verbracht. Aleppo würde bombardiert, kein Kontakt zu Mutter und Schwester.
Der Jüngsten bot ich, ersatzweise, meine mütterlichen Arme an. Während sie dort weinte, hörte ich den Großen zu, nickte, reichte Taschentücher. Und sagte am Ende: Sie müssten dennoch mindestens Bescheid sagen, wenn sie nicht kämen.
Alles braucht Zeit. Alles braucht Übung. Und für alles gibt es Gründe. Oft gute Gründe. Die wir beim Untersuchen finden könnten.
Jedes Jahr suche ich mir einen Satz, den ich über das neue Jahr in Leuchtbuchstaben als Motto schreibe.
Mein Satz für das neue Jahr und das neue Jahrzehnt, in dem wir es uns, siehe Klimawandel, Brexit und Gelbwesten, einfach nicht leisten können, nicht, an einem Strang zu ziehen:
Untersuchen ist Liebe.