DOMRADIO.DE: Der Mitgliederschwund in den beiden großen Kirchen setzt sich fort. Schuld ist vor allem der demografische Wandel: Mehr Mitglieder sterben als neue hinzukommen. 2017 stieg in beiden Kirchen aber auch die Zahl der Austritte. Gibt es auch Überraschungen bei den neuen Zahlen?
Pater Hans Langendörfer SJ (Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz): Wichtig ist mir zunächst einmal zu sagen: Wir können uns nicht mit irgendeinem Gegenwartszustand abfinden. Insbesondere können wir uns nicht damit abfinden, dass Leute aus der Kirche in großem Umfang austreten. Aber gleichwohl gilt auch: Die Statistik in diesem Jahr zeigt keine Ausschläge irgendwelcher Art, sie bewegt sich auf dem, was im vergangenen Jahr der Fall gewesen ist. Das betrifft sowohl die Taufzahlen als auch die Erstkommunionen und alle anderen Merkzahlen. Da gibt es nichts, was in besonderer Weise als Ausschlag gelten kann.
DOMRADIO: Zunächst einmal ist es für die Kirchen erfreulich, dass weit über die Hälfte aller Menschen in Deutschland Mitglied in einer der beiden Kirchen sind, alleine 28 Prozent katholisch. Das ist doch in einer Zeit, in der die Menschen sich immer stärker individualisieren, eine gute Nachricht, oder?
Langendörfer: Das ist eine wirklich gute Nachricht. Und ich glaube, es gibt viele Hinweise dafür, dass die Kirchen Kraft haben. Wir haben einen wunderbaren Katholikentag in diesem Jahr feiern können und uns steht eine Ministrantenwallfahrt mit über 50.000 Jungen Leuten nach Rom bevor, die aus ganz Deutschland kommen. Das sind Hinweise darauf, dass die Kirche im Kontakt mit den Menschen ist, dass sie Orientierung geben kann, und dass sie eine Kraft hat, die auch viele Ehrenamtliche betrifft, die sich in der Flüchtlingsarbeit, in sozialen Einsätzen und so weiter betätigen.
DOMRADIO: Aber fortlaufend treten Menschen aus der Kirche aus. 167.000 waren das im Jahr 2017 – eine ähnliche Zahl wie 2016. Wie besorgt sind Sie über diese Zahlen?
Langendörfer: Wir dürfen uns jetzt nicht ausruhen, wir dürfen uns auch nicht abfinden, mit dem, was ist. 167.000 Menschen haben nicht mehr die Kirche als den Rahmen, in dem sie sich religiös bewegen wollen. Das hat natürlich viele Gründe. Es ist gar nicht unbedingt das Geld, das man sparen möchte, sondern die Kirche ist in vielen Punkten eine Institution, die als etwas unzeitgemäß wahrgenommen wird. Sie entwickelt Haltungen, die der Gesellschaft allgemein nicht entsprechen oder zu entsprechen scheinen. Ich nenne das Frauenbild. Sie hat Skandale. Das Erscheinungsbild ist nicht immer gut.
Das sind alles Gründe, die dazu beitragen, dass Menschen der Kirche den Rücken zuwenden, zumal gerade Freiheit und Bindung heute in der Gesellschaft eine große Herausforderung sind. Man ist frei, vieles zu tun. Menschen können sich eben auch religiös neu orientieren oder gar nicht mehr orientieren. Eine Bindung zur Kirche aufzubauen, zu bewahren, sie von anderen vermittelt zu bekommen, ist alles andere als leicht. Und in dieser Mischlage von verschiedenen Faktoren sind es eben viele, die die Kirche verlassen.
DOMRADIO: Nun gibt es ja einen Streit unter den katholischen Bischöfen, von Machtkämpfen ist auch die Rede, von Diskussionen über den Empfang der Eucharistie, die keiner mehr verstehe. Wie sehr schadet denn das dem Ansehen der Kirche und führt dann auch im Extremfall zum Austritt der Menschen aus der Kirche?
Langendörfer: Ob es zum Austritt führt, wäre zu untersuchen. Ich weiß aber sehr sicher, da gibt es eine breite Differenz und Spannung auch unter den Kommentierungen: Manche sagen, es sei doch gut, dass die Bischöfe es sich nicht leicht machen, dass sie ringen, dass die einen mit den anderen die Argumente austauschen. Es gibt aber auch sehr, sehr viele, die gar nicht verstehen, worüber sich da eigentlich gestritten wird. Gerade bei solchen Menschen trägt das natürlich – gerade jetzt auch die Frage des Kommunionempfangs von nichtkatholischen Eheleuten – dazu bei, die Kirche nicht gut dastehen zu lassen. Und das ist sicherlich ein Faktor, der auch bei den Kirchenaustritten dann in letzter Konsequenz berücksichtigt werden muss.
DOMRADIO: Schauen wir mal auf das Personal der Kirchen. Kirchliche Berufe sind ja durchaus gefragt. Die Zahlen für Diakone, Pastoral- und Gemeindereferenten sind stabil. Aber die Zahl der jungen Priester geht dramatisch nach unten. Könnte das auch am Zölibat, der Ehelosigkeit der Priester, liegen?
Langendörfer: Ich glaube nicht, dass man in erster Linie auf den Zölibat schauen muss. Man muss darauf schauen, wie die Kirche wahrgenommen wird. Wie lebt sie? Wie zeigt sie sich selber? Wie attraktiv und auch unattraktiv ist sie? Und wenn man junge Männer gewinnen möchte, dass sie über das Priestertum als ihren Beruf nachdenken, dann muss da ja auch ein Beruf da sein, der attraktiv ist, in dem man Erfüllung auch für sein Leben finden kann – oder meint sie finden zu werden. Und da müsste man eigentlich eher noch ansetzen, um den Beruf an Menschen heranzutragen und auch vielleicht wieder mehr Priesteramtskandidaten zu gewinnen.
DOMRADIO: Es werden weniger Kinder und Jugendliche im Glauben erzogen. Sie haben eben gesagt, die Zahlen der Taufen und Kommunionkinder sind stabil. Wie ist da die Situation?
Langendörfer: Da sind die Dinge etwas unklarer geworden als in der Vergangenheit. Es stimmt, Freiheit und Bindung sind große Herausforderungen unserer Gesellschaft. Man ist frei, vieles zu machen. Es ist gar nicht so leicht, sich an Dinge zu binden. Wenn das für Eltern gilt, für Erwachsene gilt, dann gilt es auch für die Kinder, die getauft werden, die diese Eltern an die Kirche heranführen. Sie werden weniger an die Kirche gebunden, als das früher der Fall gewesen ist.
Wenn man dann noch die Erstkommunion und die Firmung dazurechnet, die vielleicht nicht gut gelungen sind, wo die Firmung nicht als etwas Schönes und Positives empfunden wurde, dann beginnt die Zeit, wo man selber doch in einem unentschiedenen Sinn Mitglied der Kirche ist, wo man sich nicht besonders gebunden fühlt. Und wenn dann weitere Negativfaktoren hinzukommen, dann sagt man sich vielleicht: Was soll ich in dieser Kirche noch? Sie ist nicht meins und geht weg.
DOMRADIO: Nichtsdestotrotz sind an Weihnachten und Ostern die Kirchen rappelvoll, da ist Kirche wieder angesagt. Aber es ist nicht mehr wie früher, dass man jeden Sonntag in die Kirche geht. Wie reagiert die Kirche auf solche Entwicklungen, weil wenn die Menschen nicht mehr zur Kirche kommen? Muss die Kirche zu den Menschen gehen?
Langendörfer: Als erstes freuen wir uns wirklich über diejenigen, die zum Gottesdienst kommen, um auf diese Weise Gott zu begegnen. In den Messen, in den Andachten, auf den Pilgerfahrten, die überall veranstaltet werden. Die Zahl derer ist eigentlich noch sehr viel größer als es eine Statistik wiedergibt. Denn die Statistik zählt ja immer nur zwei Sonntage im Jahr, danach wird dann die Kirchenaktivität bemessen. In Wirklichkeit sind es ja sehr, sehr viel mehr Menschen, die – zwar nicht regelmäßig und jeden Sonntag – aber doch in einem sehr aktiven Sinn in die Kirche kommen.
Und denen muss man auch noch weiter entgegenkommen, da gibt es schöne Experimente. Da werden die Gottesdienstzeiten geändert. Da bemüht man sich um eine lebendige Gestaltung. Wichtig ist auch eine vernünftige Sprache in den Gottesdiensten, damit man weiß, wovon die Rede ist. Da bemüht man sich um eine ordentliche und auch nahe Vorbereitung auf die Sakramente. All das ist zweifelsohne wichtig, um einfach auch die Erfahrung zu vermitteln, dass man in den Gottesdienst gehen kann und es dort nichts Langweiliges und Ewiggestriges gibt. Sondern etwas, das mit meinem Leben zu tun hat. Das entscheidet.
Das Interview führte Dagmar Peters.