Von ihrem Dienstzimmer in 75 Metern Höhe im Turm der Lamberti-Kirche hat Münsters Türmerin Martje Salje eine gute Sicht. Nicht nur auf ihre Stadt und deren "Gute Stube", den Prinzipalmarkt. Auch die Menschen dort unten und ihre momentanen Sorgen behält die 40-Jährige derzeit im Blick. Und auch wenn die Corona-Pandemie sie selbst betrifft in ihrem privaten Leben, versteht Salje ihre Arbeit im Turm derzeit ganz besonders als Dienst an den Bürgern da unten.
In ihrem Blog tuermerinvonmuenster.de schreibt sie: "In diesen schwierigen Zeiten der Pandemie ist es wichtig, die kleinen und großen Wunder und Freuden ganz bewusst wahrzunehmen. Ich tute weiterhin jeden Abend die Friedenssignale auf St. Lamberti über die Dächer der Friedensstadt Münster." Das sei in widrigen Zeiten wichtig, so Salje.
Glocke erklingt zwei Mal am Sonntag
Mit Kollegen im In- und Ausland weiß sie sich darin einig. So habe der Türmer im sächsischen Schwarzenberg auf die Frage, ob er denn jetzt die Friedensglocke auf dem Fichtelberg nicht mehr läuten werde, geantwortet: Die Glocke stehe für Frieden und Freiheit, läute gegen Hass und Gewalt und mahne die Menschen zu Ruhe und Gebet. Gerade jetzt, wo viele Menschen verunsichert und ängstlich seien, werde er sie sonntags gleich zwei Mal erklingen lassen.
Aus dem schweizerischen Lausanne hat Salje erfahren, dass der Türmer dort die Warnglocke "Le Clemence" jetzt nächtens läute, um Mut zu machen und alle zum Zusammenhalt aufzurufen. "Genau das möchte auch ich euch da draußen vermitteln, wenn ich das Friedenssignal tute", bloggt Salje. "Wir haben schon ganz andere Sachen überstanden, wovon das kollektive Gedächtnis noch erzählen kann. Wir werden auch diese globale Krise überstehen!"
Erste Frau in dem Amt
Gut ein halbes Dutzend Türmer gibt es noch in Deutschland. In Münster geht die Tradition bis ins Jahr 1383 zurück. Seither warnen Türmer von der Lamberti-Kirche aus die Bevölkerung vor Feuer und herannahenden Bedrohungen. Das hat auch heute noch Sinn, weil etwa ein Dachstuhlbrand von oben viel eher zu erkennen ist als von unten.
Salje, die vor sieben Jahren antrat, ist die erste Frau in diesem Amt. Ist alles ruhig, tritt die zierliche Frau jeden Abend außer dienstags zwischen 21.00 Uhr und Mitternacht alle halbe Stunde auf den Umgang des Turms und tutet je drei Mal in ein kupfernes Horn - gen Süden, Westen und Norden. Aber nie nach Osten, weil dort früher die Kirchfriedhöfe waren, so lautet eine Erklärung.
Salje, die aus Bremen stammt, ist studierte Historikerin. Neben der Musik - sie gibt Liederabende, bei denen sie auch eigene Gedichte vorträgt - ist die Geschichte der Stadt Münster eine ihrer Leidenschaften. So erzählt sie in ihrem Blog auch von dem Jahr 1382, als in Münster über 8.000 Menschen an der Pest starben und ein Großbrand weite Stadtgebiete verwüstete. Salje erklärt: "Strikte und umfassende Ausgangssperren wie heutzutage bekannt aus Frankreich, Italien und kürzlich Österreich gab es damals in vielen Handelsstädten, als die Pest viele Menschenleben kostete und das Virus z.B. auch durch Handel von einer Stadt in die nächste übertragen wurde."
Sperrstunde zur wohlverdienten Ruhe
Und die Türmerin zieht eine Parallele vom coronabedingten Lockdown - unlängst zum Anglizismus des Jahres gewählt - zur Sperrstunde im Mittelalter. "Ein Grund, die Sperrstunde für Trinkstuben einzuführen, war: Um die rechtschaffenen Bürger, die des Tages arbeiteten und des Nachts ihre wohlverdiente Ruhe haben wollten, zu schützen", erklärt Salje. "Der Türmer hielt die Wacht, mit seinem Horn verkündete er deutlich: Es ist Zeit! Und wer dann nichtsdestotrotz noch trinkend oder lärmend auf den Straßen erwischt wurde, dem drohten gefährliche Strafen." Da wird der Blog zur Geschichtsstunde und vielleicht so manche Corona-Beschränkung eingängiger.
Doch Salje verbreitet auch Hoffnung. Die Impfstoffe gäben Anlass zur "vorsichtigen optimistischen stillen Freude", schreibt sie. Sie rät zur Gelassenheit und dazu, schon jetzt für nach der Pandemie schöne Pläne zu machen. Und dann grüße sie: "Tuuuuuuuuuut! Eure Türmerin von Münster."