Seit dem Jahr 2000 ist Georg Cremer "Mister Sozialpolitik" des Deutschen Caritasverbandes: gefragter Experte bei allen Parteien im politischen Berlin, umtriebiger Planer beim größten deutschen Sozialverband.
Öffentlich meldete er sich zuletzt als eindringlicher Mahner zu Wort: Es sei brandgefährlich, zur Stimmungsmache oder im Bundestagswahlkampf die Verdienste des deutschen Sozialstaats kleinzureden und stattdessen das Schreckgespenst vom ungerechten Deutschland mit einer zerfallenden Mittelschicht zu zeichnen.
Das heiße keineswegs, so Cremer, die tatsächlichen Probleme einer wachsenden Einkommensungleichheit zu übersehen. Statt kurzatmiger Polemik gelte es aber, für ein gerechtes Deutschland "im mühsamen und häufig auch zähen Klein-Klein der Realpolitik" zu arbeiten und dabei immer konsequent die Perspektive der Bedürftigen einzunehmen.
Ruhestand vor Augen
In Kürze wird der 65 Jahre alte Volkswirt nun die Kommandozentrale des Caritasverbandes verlassen und sein nüchternes Büro mit Münsterblick in der Freiburger Caritaszentrale räumen. Zuvor wird er in Berlin an diesem Dienstag mit großem Bahnhof beim Caritas-Jahresempfang verabschiedet. "Ich denke, es ist uns ganz gut gelungen, dass die Positionen der Caritas bei wichtigen politischen Entscheidungen der vergangenen Jahre Gehör gefunden haben", sagt Cremer im Rückblick. Am 1. Juli übergibt er die Aufgabe des sozialpolitischen Gestalters an seine Nachfolgerin Eva Maria Welskop-Deffaa (58), die von der Gewerkschaft Verdi in den Caritas-Vorstand wechselt.
Vorlesungen in Freiburg
Müßiggang und Frührente passen nicht zu Cremers Zukunftsplänen, der vor seiner Zeit als Generalsekretär ein Entwicklungsprojekt in Indonesien leitete und dann als Katastrophenhelfer bei Caritas international tätig war. Auch künftig will der Vater dreier Söhne, der an der Uni Freiburg als außerplanmäßiger Professor lehrt, Studenten zu sozialpolitischen Fragen unterrichten. "Da bin ich mit großer Freude dabei." Und auch ein weiteres Buchprojekt würde er gerne angehen.
Zuletzt fand sein Band "Armut in Deutschland" ein großes Lesepublikum. Darin wiederholte er seinen Appell für einen sozialpolitischen mühsamen Weg der kleinen Schritte: Um Alters- und Kinderarmut zu verhindern, spricht er sich vor allem für Investitionen in Bildung, erschwinglichen Wohnraum sowie für eine (moderate) Anhebung der Grundsicherung und Absicherung im Alter aus.
"Wir müssen jeden Menschen in die Lage versetzen, sein Potenzial so weit zu entfalten, dass er das Leben selbst in die Hand nehmen kann."
Kein Verständnis hat er für Sozialpolitiker, die glauben machen wollen, einfache Antworten auf komplexe Fragen zu haben. Beispiel: Die jüngst medial verbreitete Warnung, wonach im Jahr 2030 angeblich jeder zweite Neurentner in die Altersarmut fallen wird. "Das ist schlichter Unsinn, und die Caritas war der einzige Wohlfahrtsverband, der das auch laut gesagt hat. Und dennoch hat sich die Zahl irgendwie im öffentlichen Bewusstsein festgesetzt - und trägt nun bei zu Unsicherheit und übersteigerten Abstiegsängsten. Viele haben das Gefühl, sie sind die letzte Generation, der es bessergeht als den Eltern. Ich halte das aber für einen übertriebenen Zukunftspessimismus."
Sorge um Demokratie
Und noch etwas treibt Cremer um - etwa im Blick auf die Wahlerfolge der AfD oder das stillschweigende Abwenden von Wahlen und Politik.
"Die Wahlbeteiligung insbesondere bei Menschen mit geringem Einkommen und geringem Bildungszugang ist heute so niedrig, dass daraus ein Legitimationsproblem der Demokratie erwachsen kann", sagt Cremer.
Niemand dürfe tatenlos zuschauen, wenn bestimmte soziale Gruppen sich immer stärker vom demokratischen Prozess zurückzögen und damit zur Zielgruppe für demokratiefeindliche Populisten würden.