Feldbetten gibt es nicht. Zusammengepfercht müssen die afrikanischen Migranten tagelang auf dem Steinboden der Hafenmole von Arguineguin schlafen. Zumindest erhalten sie ein paar Wolldecken, mit denen sie sich tagsüber auch vor der Sonne schützen können. Das Aufnahmelager des Roten Kreuzes im Süden Gran Canarias platzt aus allen Nähten. Mehr als 1.500 Menschen teilen sich ein Dutzend Duschen und Dixi-Klos.
Und es kommen immer mehr. Fast 2.200 Armutsmigranten erreichten allein am vergangenen Wochenende die spanischen Urlaubsinseln im Atlantik. Sie kommen hauptsächlich aus Marokko, dem Senegal, Mauretanien und Mali. "Die Mittelmeerroute ist mittlerweile gut überwacht, und die westafrikanischen Länder haben wegen der Corona-Pandemie die Rückführungsabkommen mit der EU ausgesetzt. So wollen immer mehr Menschen über die Kanaren Europa erreichen", erklärt Jose Antonio Rodriguez, Notfall-Einsatzleiter des Roten Kreuzes.
Heißen Tee und Keke zur Ankunft
In diesem Jahr erreichten bereits 14.500 Ankömmlinge aus Afrika die spanischen Atlantik-Inseln - neunmal mehr als 2019. Die meisten werden von der spanischen Seenotrettung vor Gran Canaria entdeckt und nach Arguineguin gebracht. Hier empfängt sie das Rote Kreuz. Einige haben Schnittwunden, Verbrennungen oder leiden an starker Dehydrierung nach der tagelangen Überfahrt. Den meisten geht es gesundheitlich aber relativ gut. Nach Medizin-Check und Corona-Test erhalten sie trockene Kleidung und Nahrungsmittel. "Da sie seit Tagen nichts gegessen haben, gibt es nur heißen Tee und ein paar Kekse. Alles andere würde ihr Magen zunächst nicht gut vertragen", erklärt Einsatzleiter Rodriguez. Danach gibt es tagelang nur Wasser, Fruchtsäfte und belegte Brötchen.
Die Migranten müssen hier tagelang ausharren, bis die Corona-Testergebnisse vorliegen. Erst dann können sie in andere Zentren verlegt werden - die ebenfalls überfüllt sind. So wurden mehr als 2.000 Bootsflüchtlinge bereits in nahen Hotels untergebracht, die wegen der Corona-Krise derzeit leer stehen.
Zustände im Flüchtlinslager Arguinequin schlecht
Das von den Medien als "Lager der Schande" getaufte Flüchtlingscamp in Arguinequin sei "vollkommen inakzeptabel, menschenunwürdig und gefährdet sogar die Gesundheit der Migranten", kritisiert Mustafa Galah Leman von der katholischen Caritas auf Gran Canaria. "Wir fordern die Regierung und alle Verantwortlichen auf, mehr Ressourcen zur Verfügung zu stellen und eine humanitären Aufnahme der Flüchtlinge zu gewährleisten, wie sie eines EU-Landes würdig ist", so Galah Leman. Auch die Organisation Human Rights Watch kritisierte zu Wochebeginn die Zustände in dem Lager.
Spaniens Zentralregierung in Madrid scheint sich der Lage bewusst zu sein. Das Camp ist weiträumig abgesperrt. Selbst Journalisten dürfen sich nicht nähern. Unterdessen fühlt sich die Inselregierung im Stich gelassen und von der aktuellen Welle von Ankömmlingen überfordert.
Zwar versprach Spaniens Innenminister Fernando Grande-Marlaska vergangene Woche nach einem Besuch auf Gran Canaria, die Insel entlasten und Flüchtlinge aufs Festland holen zu wollen. Geschehen ist seither aber wenig.
Angst vor Zuständen wie auf Lesbos
Der Regierungschef von Gran Canaria, Antonio Morales, geht hart mit Madrid und Brüssel ins Gericht: "Spanien und die EU wollen die Kanaren zu einem zweiten Lesbos und einer Art Gefängnisinsel machen. Die Strategie ist klar: Den Migranten soll das Gefühl gegeben werden, nicht in Europa angekommen zu sein", so Morales im KNA-Gespräch.
Unterdessen führt der Andrang auf Gran Canaria und den anderen Inseln wie Teneriffa, Fuerteventura und Lanzarote bereits zu Bürgerprotesten und Unruhe. Schon im August errichteten die Einwohner von Tunte Straßenbarrikaden, um die Unterbringung von Bootsflüchtlingen in ihrem Ort zu verhindern. Vergangene Woche mobilisierte der Fischerverband von Arguineguin das halbe Dorf zum Protest. "Wir leben hier vom Tourismus. Wegen Corona bleiben viele Urlauber weg. Die Bilder von Flüchtlingsmassen könnten noch mehr Touristen fernhalten", glaubt Ricardo Ortega, Vorsitzender des Fischerverbands. "Wir haben nichts gegen Flüchtlinge, wohl aber etwas gegen eine solche Invasion illegaler Migranten", so Ortega.
1000 Euro pro Platz auf einem Holzboot
Dabei wollen die wenigsten Bootsankömmlinge aus Afrika überhaupt auf den Kanaren bleiben, da sie hier ohne Papiere weder arbeiten dürfen noch Jobs finden. "Und sie müssen dringend Geld nach Hause schicken", versichert Juan Carlos Lorenzo von der spanischen Flüchtlingshilfsorganisation CEAR. Teilweise sparen ganze Gemeinden darauf, dass eine Person aus dem Dorf nach Europa übersetzen und Geld verdienen kann. Bis zu 1.000 Euro kostet ein Platz in den teils nicht motorisierten Holzbooten, die von den Schlepperbanden in Westafrika in die Passatwinde gezogen werden, wo die Migranten dann den Strömungen überlassen sind.
Ändern sich die Winde, treiben die Boote einfach an den Kanaren vorbei, und die Menschen verdursten auf dem Atlantik. Viele Boote kentern auch. Wie viele die gefährliche Überfahrt nicht überleben, weiß niemand genau. Laut der Internationalen Organisation für Migration IOM stirbt auf der Atlantikroute zu den Kanaren aber schätzungsweise jeder 16. Flüchtling. Zum Vergleich: Im östlichen Mittelmeer auf dem Weg nach Griechenland schafft es lediglich einer von 120 Bootsflüchtlingen nicht.