Das Lebenswerk der Inge Aicher-Scholl war weit gespannt - aber in der öffentlichen Wahrnehmung blieb sie bis zu ihrem Tod am 4. September 1998 vor allem die Schwester von Hans und Sophie Scholl, den wohl berühmtesten Mitgliedern der Widerstandsgruppe "Weiße Rose". Am 11. August wäre sie 100 geworden. Der Tod der Geschwister wurde zu ihrem Lebensthema, sie fühlte sich verantwortlich, die Erinnerung wachzuhalten.
Das lag wohl auch an der Familienkonstellation als älteste von fünf Geschwistern. Die Eltern pflegten einen bildungsbürgerlichen Habitus, Literatur und Musik gehörten selbstverständlich dazu. Die Mutter, eine ehemalige Diakonisse, prägte die Kinder mit ihrer Frömmigkeit, der Vater mit seinem Interesse für Politik. Robert Scholl stand dem Nationalsozialismus ablehnend gegenüber, aber bei seinen Kindern konnte er sich damit nicht durchsetzen. Die liebten die Gemeinschaft in den Jugendgruppen und waren fasziniert vom "Führer".
Geschwister im Widerstand
In der Hitlerjugend übernahm Inge bald Führungsaufgaben. Allerdings kam es zunehmend zu ideologischen Differenzen mit Vorgesetzten. Das Jahr 1937 markierte dann eine Zäsur: Inge, Hans und Werner Scholl wurden von der Gestapo wegen "bündischer Umtriebe" verhaftet. Inge und Werner wurden bald wieder entlassen, aber der Gefängnisaufenthalt bewirkte einen nachhaltigen Schock. Allmählich distanzierte sich Inge vom Nationalsozialismus.
Die orientierungslos gewordene junge Frau wandte sich dem Katholizismus zu - für sie Gegenentwurf zur NS-Ideologie. Großen Einfluss hatte Otl Aicher, ihr späterer Ehemann und ein enger Freund der Familie. Am Todestag von Hans und Sophie, am 22. Februar 1945, konvertierte sie zum Katholizismus. Vom Widerstand ihrer Geschwister wusste sie nichts. Umso größer war der Schock, als die Familie von Verhaftung und Hinrichtung erfuhr. Die Angehörigen wurden ebenfalls inhaftiert, mehrere Monate blieb Inge in "Sippenhaft".
Ethisch-religiös geprägt
Nach Kriegsende gehörte Inge Scholl zu den Mitbegründerinnen der Ulmer Volkshochschule. Martin Buber, Romano Guardini, Walter Jens und andere prominente Referenten folgten ihrer Einladung. Nach ihren Erfahrungen im Dritten Reich sollte Bildung die Menschen befähigen als mündige Staatsbürger zu handeln. Ihr Demokratieverständnis war vor allem ethisch-religiös geprägt. Den Amerikanern galt sie als Vorzeigemodell gelungener "Reeducation", gar als "Symbol für Deutschland".
1974 beendete sie ihre Tätigkeit für die VHS und schloss sich der Friedensbewegung an. Sie gehörte zu den Besetzern von Mutlangen, wo die USA Pershing-Raketen stationiert hatten. Daneben begann sie, sich intensiver ihrem Archiv zu widmen. Schon bald nach der Hinrichtung ihrer Geschwister hatte sie deren Lebensgeschichte niedergeschrieben. Ihr Bericht wurde zur Grundlage eines erfolgreichen Buches mit dem Titel "Die weiße Rose". Erst durch das Buch etablierte sich der Titel der ersten Flugblätter als Name der Widerstandsgruppe.
Erinnerungskultur im neuen Deutschland
Durch Inges Veröffentlichungen und Vorträge rückten Hans und Sophie Scholl in der Öffentlichkeit ins Zentrum der Gruppe - eine tendenziell verzerrte Wahrnehmung, folgt man der Historikerin Christine Hikel. Jahrzehntelang forschte Inge Scholl nach Dokumenten über den Widerstand, nach Verhör- und Prozessakten. Aber erst mit der Wiedervereinigung erhielt sie Zugang zu Archivalien, die bis dahin in der DDR gelagert hatten. Sie bildeten für eine neue Historiker-Generation die Grundlage für eine andere, zum Teil differenziertere Sicht auf die "Weiße Rose".
Ihre Deutungshoheit über das Handeln ihrer Geschwister hatte Inge Scholl seit dem Aufkommen der 68er-Bewegung zunehmend eingebüßt. Der studentische Widerstand verlor an Bedeutung im öffentlichen Bewusstsein; neue Interpretationen tauchten auf, die mit den teils bürgerlich-humanistischen, teils christlichen Motiven der Widerstandsgruppe nichts anzufangen wussten. Trotzdem nahm Inge Aicher-Scholl Einfluss auf die Erinnerungskultur, die sich um ihre Geschwister rankte. Dass diese im kulturellen Gedächtnis bis heute ihren Platz haben, ist wesentlich ihr Verdienst.