DOMRADIO.DE: Stille finden im Freibad, wie soll das zwischen all den Menschen gehen?
Georg Magirius (Theologe und Schriftsteller): Mir geht es so, dass es trotzdem möglich ist. Denn ich finde, Stille ist nicht sofort Geräuscharmut. Es geht mir mehr um die innere Ruhe. Die kann man im Freibad finden. Es gibt zum Beispiel diesen einen Moment während des Schwimmens, in dem man teilweise unter der Wasseroberfläche ist. Das finde ich immer fantastisch, weil dann kurzzeitig alles gedämpft ist. Und das ist eine Überraschung. Man hört zwar dieses Schreien der Kinder, aber dann ist ab und zu auch wieder Stille.
DOMRADIO.DE: Das heißt, es geht nicht darum, möglichst früh da zu sein, damit wenige Menschen da sind oder an nicht ganz so schönen Tagen?
Magirius: Ich muss schon sagen, dass ich auch gerne an leeren Tagen hingehe. Allein schon, wenn es 20 Grad sind, ist es manchmal völlig leer. Oder an einem Tag wie heute kann man auch ins Hallenbad gehen, wenn das noch offen hat. Das ist dann fantastisch. Aber ich finde auch an lauten Tagen Stille im Freibad. In dem Bad, wo ich gerne hingehe, hat man zum Beispiel auch einen Blick auf den Taunus. Es ist ein altes Betriebsbad von einem Industriebetrieb, das jetzt städtisch geworden ist. Dort gibt es zwei Beachvolleyballfelder und eine verwilderte Minigolfanlage. Dort liegt fast keiner. Dort spielt auch keiner Volleyball, weil es ja eh so heiß ist. Und das sind Ecken, wo ich in der Stadt wirklich Stille finde.
DOMRADIO.DE: Warum stört Sie das Gewimmel der anderen Leute nicht? Hat das etwas mit Disziplin zu tun oder mit Meditation?
Magirius: Vielleicht geht es darum, einfach mal die Perspektive zu wechseln; dass man nicht denkt: Mensch, ich muss jetzt hier meine Bahnen in fast leeren Becken durchpflügen. Stattdessen kann man auch tauchen. Wenn man einfach mal für paar Sekunden unter Wasser geht, sieht alles aus wie ein stummes Wasser-Ballett.
Das Tolle finde ich auch, dass im Freibad die Etiketten abgelegt werden. Sonst hat man ja vielleicht Berufskleidung an, muss sich so oder so verhalten. Aber in dem Augenblick, wo ich ins Freibad komme, ziehe ich die Schuhe aus. Dieses Gefühl der Wiese an meinen nackten Füßen ist wie das Stehen auf heiligem Boden. Und wenn man dann feststellt: Die Menschen, die sind ja gar nicht genormt. Alle suchen nach einer Norm, aber im Freibad denkt man: Mensch, jeder ist ein Original. Da kann ich sogar das große Nächstenliebe-Gebot spüren - dieses: sich selber als ungenormt akzeptieren, weil alle ganz normale Menschen sind und jeder völlig unterschiedlich. Dadurch, dass alle ihre Kleidung ablegen, kommt das Gebot der Gleichheit zum tragen. Man ist völlig unterschiedlich und doch wieder gleich. Und das ist so eine unglaubliche Entlastung.
DOMRADIO.DE: Ihr aktuelles Buch, in dem Sie auch über das Freibad geschrieben haben, heißt "Stille erfahren". Kann man das denn lernen, auch im Freibad diese Ruhe zu erfahren oder ist das jetzt Ihr persönliches Ding?
Magirius: Die Idee ist, dass ich meine Erfahrungen aufschreibe. Und die Leser kommen dann auf ähnliche Ideen, werden sich Dingen bewusst, die sie eigentlich schon tun, aber auf die sie nicht achten. Beim Schwimmen zum Beispiel kann man schon lernen, den Moment zu erkennen, in dem man völlig loslässt - dieser Sekundenbruchteil, in dem man sich der Spannung des Wassers überlässt. Es ist nicht eine völlige Demut, denn wenn ich mich nicht mehr bewege, gehe ich natürlich unter. Aber wenn ich mich eine Zeit lang nicht bewege zwischen den Schwimmzügen, spüre ich, wie mich dieses Wasser trägt. Das ist so, als ob jemand zu mir 'Ja' sagen würde. Das sind Momente, auf die es sich lohnt, bewusst zu achten.
Das Interview führte Dagmar Peters.