Hinweis: Die ist ein Interview aus dem Februar 2017.
DOMRADIO.DE: Was haben die Studenten der Amtskirche denn damals vorgeworfen?
Prof. Hubert Wolf (Kirchenhistoriker an der Universität Münster): Es ist, glaube ich, verfehlt, zu sagen, dass die Kirche im Fokus gestanden hätte. Denn die Kirche hat ja im Grunde diese Reform - wesentlich früher als die Bundesrepublik und die Universitäten - schon vorweggenommen. Den "Muff von 1000 Jahren" und die alten Talare hat die katholische Kirche in der Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils bereits abgeschafft - zwei Jahre vorher, im Jahr 1965. Und in diese Aufbruchsbewegung innerhalb der Kirche in der Frage: "Wie setzen wir das Konzil in Deutschland um?" - da hinein knallt 1968 diese Studentenunruhe. Und die lädt natürlich einen Prozess, der schon im Gange ist, nochmal neu auf. Das führte zum Beispiel in Tübingen dazu, dass Josef Ratzinger, der dort gerade Dekan ist, damit konfrontiert wird, dass jetzt katholische Theologiestudenten die Reformen ganz woanders hintreiben wollen, als er sich das als Berater des Konzils vorgestellt hat. Jetzt geht es um Fundamentaldemokratisierung in der Kirche. Das führt übrigens dann dazu, dass Ratzinger seine Professur in Tübingen genau 1968 verlässt und sich nach Regensburg in das ruhigere Bayern aufmacht.
DOMRADIO.DE: Also, die Revolte ließ den emeritierten Papst und damaligen Josef Ratzinger umdenken und Halt suchen in Tradition und Volksfrömmigkeit seiner Jugend. Was hat ihn denn damals gesorgt?
Wolf: Dafür müssen wir nicht nur auf die Studentenrevolte 1968 gucken, sonden auch auf den berühmten Katholikentag im gleichen Jahr in Essen. Gerade vorher war die Enzyklika Humanae Vitae Pauls VI. erschienen, welche die Verwendung der Pille verboten hat. Die deutschen Bischöfe haben dann in der Königsteiner Erklärung eine Möglichkeit gefunden, den deutschen Katholikinnen und Katholiken den Gebrauch der Pille doch zu erlauben.
Und genau in dieser Situation trifft man sich zum Katholikentag in Essen, und da knallt es nun richtig. Denn diese revolutionäre Stimmung hat jetzt auch die Katholiken erfasst. Jetzt will man eine andere Kirche. Man möchte Mitsprache der Laien, man möchte tatsächlich so etwas wie Demokratie in der Kirche wagen. Es ist natürlich klar: Auf der anderen Seite hat die Hierarchie davor Angst. Und Josef Ratzinger hatte Angst, dass er die Geister, die er selber glaubt, mit gerufen zu haben, nicht mehr kontrollieren kann.
DOMRADIO.DE: Jetzt ging es ja in den Studentenprotesten auch darum, sich gegen den Vietnamkrieg aufzulehnen. War denn aus der offiziellen Kirche damals eine kritische Stimme zu hören?
Wolf: Die Grundaussagen von Johannes XXIII. und von Paul VI. waren ja im Hinblick auf Krieg sehr klar: Definitive Verabschiedung von der Lehre vom gerechten Krieg. Eine Grundvision, dass Frieden auf der Welt möglich sein muss. Und natürlich haben sich die Bischöfe nicht hingestellt und einen flammenden Protest erlassen. Aber die Friedensbewegung, die in dieser Zeit entsteht, nimmt ja christliche Grundideen und Grundmotive aus. Was ist denn der Ausdruck "Schwerter zu Pfugscharen", was ist denn die Friedenstaube? Das sind christlich-biblische Motive, die zwar in einer säkularisierten Weise aufgenommen werden, aber ohne einen christlichen Hintergrund nicht denkbar sind.
DOMRADIO.DE: Dazu passt auch der Protest der Studenten gegen die NS-Vergangenheit. Das war der Amtskirche natürlich auch ein bisschen unbequem?
Wolf: Es war natürlich der Kirche unbequem, weil man die Rolle der katholischen Kirche in der Zeit des Dritten Reiches immer als die große Rolle des Widerstandes gefeiert hatte - was zu einem großen Teil natürlich auch stimmt. Aber auch zu diesem Thema war die Diskussion in der katholischen Kirche schon vorher gelaufen, nämlich durch Rolf Hochhuths "Der Stellverteter", der kam 1963 heraus. Das heißt, die Debatte, die gesellschaftlich nach 1967/68 kommt, ist in der katholischen Kirche durch das Erscheinen des Stellverteters 1963 und durch den berühmten Artikel von Ernst-Wolfgang Böckenförde "Der Katholizismus im Jahr 1933" in der katholischen Zeitschrift "Hochland" schon vorher ausgelöst worden. Denn da ging jetzt darum: Welche Rolle hat der Papst Pius XII. im Holocaust gespielt? Warum hat er geschwiegen? Die ganze Diskussion drehte sich ja dann schon vor 1968 darum: Wenn es wirklich stimmt, dass der Papst geschwiegen hat, dann durften wir auch schweigen. Das heißt, auch da ist die Kirche wesentlich früher.
DOMRADIO.DE: Das heißt, Sie würden auch so weit gehen und sagen: 1968 hat Kirche gar nicht verändert?
Wolf: Doch. Denn es wirkte nochmal als Katalysator. Das führte natürlich jetzt dazu, dass plötzlich andere Formen der Mitwirkung gefordert wurden. Die dann folgende Würzburger Synode (1971-75) war dann im Grunde der Kompromiss zwischen denen, die diesen Aufbruch wagen wollten, und den Bischöfen, die das irgendwie moderieren wollten. Man hat den Verdacht, dass dieser Aufbruch, dieses Reformpotential, kanalisiert worden ist, in einen Ausschuss verwiesen, auf die lange Bank geschoben. Und dass eine ganze Reihe von heutigen Problemen doch genau die Probleme sind, die man damals diskutiert hat: Wie ist es denn mit der Weihe von Frauen zum Diakon? Wie ist es mit "viri probati"? Wie ist es mit der Gemeindeleitung durch Laien? Wir ernst meint man eigentlich synodale Strukturen? Wer hat die Kompetenz, über das Geld und den Haushalt einer Diözese zu entscheiden?
Das waren doch all die Diskussionen, die man 1968 geführt hat. Und was machen wir heute? Wir merken heute, dass die Generation derer, die dort mit vollem Elan in die Diskussion reingegangen sind, heute eigentlich frustiert sind. Und wir merken, dass, wenn sich nicht bald kirchlich wirklich etwas bewegt, die Sache dem Ende entgegen geht. Das gilt vor allem für die Kerngemeinden, weil ganz viele engagierte Leute keine Lust mehr haben auf irgendwelche Dialogprozesse, bei denen am Ende dann doch nichts rauskommt. Die Kraft zu einem 68er-Aufstand hat, glaube ich, heute in der katholischen Kirche niemand mehr.
Das Interview führte Tobias Fricke.