KNA: Herr Nehberg, Sie haben früher nicht nur Würmer und Käfer verspeist, sondern auch Tierkadaver vom Straßenrand. Der ZDF-Dokumentarfilm "Der Deutschlandmarsch" von 1981 war Ekel-TV der ersten Stunde. Hat RTL schon mal bei Ihnen angefragt, ob Sie ins Dschungelcamp ziehen wollen?
Nehberg: Ja, ich sollte so eine Art Berater werden. Das habe ich aber abgelehnt. Das hat für mich nichts mit Survival zu tun, sondern es bedeutet lediglich, Quote mit Ekel zu machen.
KNA: Nach dem Überlebenstraining gingen Sie in den brasilianischen Urwald, um die Vernichtung der Yanomami-Indianer durch Goldsucher zu dokumentieren. Was war der Auslöser für die Wandlung vom Abenteurer zum Menschenrechtler?
Nehberg: Ich bin Augenzeuge dieser Verbrechen geworden. Ich hatte gedacht, die Eroberung Amerikas sei Geschichte. Doch dann kam ich nach Brasilien und hörte vom Schicksal der Yanomami-Indianer, immerhin das letzte noch ursprünglich lebende Volk. Es wurde bedroht von einer Armee aus 65.000 bewaffneten Goldsuchern, die über 400 Flugzeuge verfügten. Die Indianer hatten keine Chance. Da habe ich dann angefangen, mich zu engagieren, und da sind 18 Jahre draus geworden. Ich habe damals sogar meine Konditorei verkauft, um die nötige Zeit zu haben. Ich war beim Papst, ich war bei der Weltbank, um Unterstützer zu finden. Im Jahr 2000 reichte der internationale Druck auf Brasilien dann aus, und die Yanomami-Indianer bekamen einen akzeptablen Frieden.
KNA: Um auf das Schicksal der Indianer aufmerksam zu machen, haben Sie dreimal - mit einen Tretboot, einem Bambusfloß und auf einem 18 Meter langen Weißtannen-Baumstamm - den Atlantik überquert. Hatten Sie je Zweifel, das Richtige zu tun?
Nehberg: Nein, diese Boote waren idiotensicher. Sie waren unkonventionell, aber sie waren sicher, weil sie nicht untergehen konnten. Ich wusste, wie die Strömungen verliefen und welche Jahreszeit optimal sein würde, um nicht in Hurrikans zu geraten. Und so bin ich immer wieder gut angekommen.
KNA: Sie haben den Blauen Nil befahren, die Danakil-Wüste in Ostafrika durchwandert, den Atlantik überquert. Und Sie haben 22 bewaffnete Überfälle überlebt. Überrascht es Sie, ihren 80. Geburtstag feiern zu können?
Nehberg: Ja, sehr. Damit habe ich nicht gerechnet. Als ich so mit den abenteuerlichen Reisen anfing, da war ich 17. Ich bin mit dem Fahrrad nach Marrakesch gefahren, um Schlangenbeschwörung zu lernen. Da hatte ich schon den Grundsatz, lieber kurz und knackig als lang und langweilig. Nun lebe ich schon lang und knackig und danke meinem Schutzengel. Denn das ist nicht alles Survival, das ist auch Fügung und Glück. Ob eine Kugel mich trifft oder nicht, das liegt nicht in meiner Hand.
KNA: Hatten Sie je Angst vor dem Tod?
Nehberg: Ich habe nur Angst vor einem qualvollen Tod, weil ich gesehen habe, wie in Kriegen Menschen verrecken, wie sie schreien. Oder in Krankenhäusern, wenn Menschen dahinsiechen, wenn sie an Betten fixiert sind und keine Körperkontrolle mehr haben. In so einer Situation möchte ich nicht mehr leben.
KNA: Sind Sie ein gläubiger Mensch?
Nehberg: Ich bin mit 17 aus der Kirche ausgetreten - und zwar aus Überzeugung. Lehre und Leistung klafften zu sehr auseinander. Inquisition, Hexenverbrennung, Indianerausrottung, da konnte ich nicht mitmachen. Aber ich glaube an eine große Schöpfungskraft, die man nun Gott, Allah oder Jehova nennen kann. Wenn man wie ich viel in der Natur lebt, über Monate fernab von aller Zivilisation, auf dem Ozean oder im Urwald, dann wird einem die ganze Genialität der Schöpfung sehr bewusst. Da muss es eine Schöpfungskraft geben. Und davor verneige ich mich in Demut. Wenn ich aber die Religionen erlebe, bei der jede meint, sie habe den wahren Glauben, dann muss ich da nicht unbedingt mitmachen. Ich glaube an diesen Schöpfer und lebe sozialverträglich, das beweist meine Arbeit. Mal gucken, wie das beim Jüngsten Gericht dann irgendwann beurteilt wird.
KNA: Sie haben aber eine Reihe tiefgläubiger Freunde.
Nehberg: Ja. Wenn ich zum Beispiel Fragen zum Katholizismus habe, dann habe ich zwei Berater: Pfarrer Felix Evers und Bruder Paulus. Das sind sehr weise Menschen, von denen ich viel lernen kann und die bei mir ein- und ausgehen.
KNA: Im Jahr 2000 gründeten Sie mit Ihrer Frau Annette die Menschenrechtsorganisation Target, die sich gegen die Genitalverstümmelung bei Mädchen einsetzt. Im Juni nun eröffnet Ihre Organisation in Äthiopien eine Klinik für Mädchen und Frauen. Was war der Auslöser, dass Sie sich diesem Thema verschrieben haben?
Nehberg: Wie bei den Indianern bin ich auch hier Augenzeuge der Verbrechen geworden. Die Genitalverstümmelung wird bei Christen wie Muslimen praktiziert, wobei 80 Prozent der täglich 6.000 Opfer Muslimas sind. Gegen alle Widerstände und allen Warnungen zum Trotz haben wir einflussreiche Muslime gewinnen können, die den Willen und die Macht haben, den Brauch zu verbieten und die dies mit der Ethik ihrer Religion begründen können. Den ersten messbaren Erfolg hatten wir damit beim Afar-Volk in der Danakil-Wüste in Äthiopien erzielt, das den Mut aufgebracht hat, den Brauch zu beenden oder doch zumindest die schlimmsten Auswüchse zu unterbinden. Als Dankeschön hatten wir ihnen damals eine mobile Krankenstation geschenkt. Jetzt haben wir eine Klinik gebaut, als Signal auch an andere Völker, dem Beispiel des Afar-Volkes zu folgen. Sehr viele Imame und hochrangige geistliche Führer pflichten uns inhaltlich bei, doch es ist noch ein weiter Weg, diesen furchtbaren Brauch zu besiegen.
KNA: Einer ihrer größten Erfolge war, dass eine Gelehrtenkonferenz 2006 in der al-Azhar-Universität zu Kairo die Genitalverstümmelung als "strafbares Verbrechen, das gegen höchste Werte des Islam verstößt" brandmarkte. Was sind Ihre nächsten Ziele?
Nehberg: Ich will dieses Jahr mit meinem muslimischen Berater zu den Muftis (islamische Rechtsgelehrte, Anm. d. Red.) nach Mekka gehen und überzeugen, dass auch sie eine klare unmissverständliche Fatwa (ein islamisches Rechtsgutachten, Anm. d. Red.) herausgeben. Das wäre sensationell. Außerdem wünsche ich mir, dass es uns gelingt, dass jeder der jährlich rund vier Millionen Pilger, die nach Mekka kommen, eine kleine goldene Karte erhält, auf der dann die Fatwa in seiner Sprache abgedruckt ist. Das wäre so eine Art Lebensziel.