KNA: Warum lohnt es sich, Liebesbriefe normaler Menschen zu erforschen?
Prof. Eva Wyss (Gründerin des Liebesbrief-Archivs in Koblenz): Über die alltagssprachlichen Liebesbriefe erfahren wir, wie Menschen tatsächlich schreiben und wie Paare kommunizieren - anstatt wie es vielleicht sein sollte. Lange hat man sich für das Idealbild des Liebesbriefs interessiert, einen Text, der geglättet, geformt oder redigiert ist. Das Liebesbrief-Archiv gibt uns nun einen Einblick in authentische Liebesschriftlichkeit der Menschen. Es liegt ein reicher Fundus an Dokumenten vom 18. Jahrhundert bis zu Paarkommunikation der heutigen Zeit vor.
KNA: Das Smartphone hat Stift und Papier abgelöst. Hat der Liebesbrief noch Zukunft?
Wyss: Die Frage ist, wie streng definieren wir den Liebesbrief. Wenn wir von einem handschriftlichen Brief auf Papier sprechen, dann ist die Blütezeit der Liebesbriefe vorüber. Dafür bekommt der Liebesbrief neben anderen Medien wie E-Mail und Messenger aber eine herausgehobene Rolle. Einen Liebesbrief zu schreiben oder zu bekommen ist etwas besonderes. Die Menschen greifen zu außerordentlichen Anlässen schon zu Stift und Papier, etwa zum Jahrestag, Geburtstag, an Weihnachten oder um Dank auszusprechen oder Bilanz zu ziehen.
Wir sehen auch, dass die elektronischen Medien die Kommunikation von Paaren verändern. Heute schreiben manche Paare einander über das Smartphone kontinuierlich hin und her, andere schicken sich zu bestimmten Zeiten oder Anlässen Nachrichten oder eine Sprachnachricht. Da steht oft nicht die einzelne Nachricht im Zentrum, sondern der Austausch.
KNA: Lässt sich Liebe gut in Worte fassen?
Wyss: Für manche Schreiber ist das tatsächlich ein Dilemma. In manchen Briefen wird thematisiert, wie schwierig es für die Verfasser ist, die eigenen Gefühle auszudrücken oder Worte für ihre Gefühle auszuwählen, ohne Floskeln zu nutzen. Die Liebesbriefe zeigen aber auch, dass in den vergangenen Jahren der Wortschatz, um Gefühle zum Ausdruck zu bringen, sehr stark gewachsen ist. Die Menschen haben heute ein immenses und differenziertes Vokabular, um ihre Gefühlswelt zu analysieren und darüber zu sprechen.
Das liegt auch daran, dass nach dem Zweiten Weltkrieg das Interesse an Psychologie zunimmt, Psychologisches in Sendungen oder Zeitschriften für Frauen und Männer rege thematisiert wird und diese Diskurse in die Alltagssprache übernommen werden.
KNA: Trotzdem tauchen in Liebesbotschaften immer wieder die gleichen Formeln und Kosenamen auf, Schatz, Liebling, Gruß und Kuss...
Wyss: Klar, nicht alle Briefe und Botschaften sind originell. Da finden sich schon sehr viele standardisierte Formulierungen, "Ich sende dir 10.000 Küsse", "Ich küsse und drücke dich". Dennoch zeugen viele Nachrichten von dem Wunsch, möglichst originell und individuell mit passenden Metaphern, Bildern und Formulierungen Gefühle auszudrücken. Seit den 1980ern wird auch stärker die Ambivalenz und Flüchtigkeit von Gefühlen Thema und es wird möglich, in der Beziehung darüber zu sprechen, dass Gefühle nicht immer gleich intensiv sind.
KNA: Was haben sie in 30 Jahren Liebesbriefforschung über Menschen und die Liebe erfahren?
Wyss: In den vielen alltagssprachlichen Liebesbriefen überraschte mich die Breite und Vielfalt an Formulierungen, Brieftypen und Schreibanlässen. Die Autoren der Briefe schreiben mehr oder weniger gerne und gut, manche Briefe sind in sehr ästhetischem Duktus, andere einfacher. Es gibt auch ungelenk geschriebene Briefe. Heute finden einige auch andere Wege, mit neuen Medien und Bildern tolle Liebesbotschaften zu kreieren. So kommt es vor, dass leidenschaftliche Liebesbotschaften an eine Hauswand gesprayt oder auf den Asphalt geschrieben werden.
Das Interview führte Anna Fries.