In der hintersten Reihe sprang der nordirische Pastor Ian Paisley auf. Er schwenkte ein rotes Plakat mit der Aufschrift "Antichrist" und wetterte mit heiserer Stimme gegen das katholische Kirchenoberhaupt. Aus dem Plenarsaal flogen Papierknäuel in Richtung des protestierenden Presbyterianers - bis Parlamentspräsident Lord Plumb den exzentrischen Einzelkämpfer des Hauses verwies.
Den Papst am Rednerpult irritierte der Zwischenfall offensichtlich wenig. Er entfaltete in Ruhe seine Vorstellung von einem künftigen Europa. Den 500 Parlamentariern aus damals noch zwölf Mitgliedsländern stellte er sich mit den Worten vor, er komme aus Zentraleuropa und kenne die Erwartungen der "slawischen Völker - dieser anderen Lunge unserer europäischen Heimat". Sein Wunsch als oberster Hirte der Universalkirche sei es, "dass Europa sich souverän freie Institutionen gibt und eines Tages sich in die Dimensionen entfalten kann, die die Geografie und mehr noch die Geschichte ihm gegeben haben".
Dabei könne man Gott nicht ausklammern, so der Papst. Immerhin habe "die vom christlichen Glauben inspirierte Kultur die Geschichte aller Völker unseres einen Europa zutiefst geprägt", und zwar "allen Wechselfällen zum Trotz und jenseits gesellschaftlicher und ideologischer Systeme".
Gegen einen religiösen Integralismus
Entschieden wandte sich Johannes Paul II. gegen einen religiösen Integralismus, der mit dem "Genius Europa, so wie ihn die christliche Botschaft geformt hat, unvereinbar" sei. Man müsse klar unterscheiden zwischen dem "Bereich des Glaubens und dem des bürgerlichen Lebens".
Zudem stellte er klar, dass der Zusammenschluss nicht die Identität seiner Völker gefährden dürfe. Nachdrücklich erinnerte er Europa an seine Verpflichtung für die Entwicklungsländer; es dürfe sich "nie im Egoismus verschließen".
Mit seiner Rede in Straßburg konkretisierte Johannes Paul II. seine Vision von Europa, die er schon zuvor mehrfach entfaltet hatte. Die Kirche ermutige zu einem Europa, das für Frieden und Zusammenarbeit stehe; in dem die Sensibilität für Menschenrechte und den Wert der Demokratie gewachsen seien. Ein solches Europa dürfe nicht bei wirtschaftlicher Zusammenarbeit stehenbleiben. Für seinen Zusammenhalt brauche es eine Seele und einen Geist. Gläubige wie Nichtglaubende sollten sich vor Augen halten, wohin der Ausschluss Gottes aus dem öffentlichen Leben führen könne, wenn man Gott als letzte Instanz der Ethik und als "höchste Garantie gegen alle Missbräuche der Macht des Menschen über den Menschen" ausklammern wolle.
Ein geeintes Europa "vom Atlantik bis zum Ural"
Immer wieder seit Beginn seines Pontifikates 1978 brachte Johannes Paul II. die Idee eines geeinten Europa "vom Atlantik bis zum Ural" ins Gespräch. Eines Europa, das nach der Überwindung der Gegensätze zwischen den Staaten und Machtblöcken geschaffen werden könne und für das er sich mit seiner Unterstützung und Begleitung der polnischen Gewerkschaft "Solidarnosc" persönlich einsetzte - letztlich mit Erfolg. Dabei war Johannes Paul II. überzeugt, dass der Zusammenbruch des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa nur eine Frage des Wann und nicht des Ob sei.
Bereits zu Beginn der 70er Jahre hatte er deutsche Bischöfe bei deren Besuch in seiner Bischofsstadt Krakau irritiert, als er beharrlich fragte, was die Kirche nach dem Fall des Kommunismus unternehmen müsse. Für ihn schien es offenbar gar kein Problem mehr, wie überhaupt dieser Zusammenbruch zustande kommen könnte. Diese Position bezeichneten seine Gesprächspartner anschließend als etwas weltfremd.
Doch die Geschichte gab ihm Recht. Der maßgebliche Beitrag Johannes Pauls II. zum Sieg der Solidarnosc und zum Ende des Ostblocks wurde auch von seinem ideologischen Gegenspieler im Kreml, Michail Gorbatschow, anerkannt. Die visionäre Rede vor dem Europaparlament in Straßburg ein Jahr vor dem Fall der Mauer war dafür eine wichtige Etappe.