Hätte nicht der Autor selbst, der inzwischen zum Papst gewählt wurde, ihm die Genehmigung dafür gegeben, würde Ortega wohl exkommuniziert. So aber erhalten die gesamte katholische Kirche und die interessierte Öffentlichkeit einen einmaligen Einblick in einen Vorgang, der sonst nur über Andeutungen und Indiskretionen schemenhaft publik geworden wäre.
Die Rede sorgte, wie bereits mehrere Kardinäle in den vergangenen Tagen angedeutet hatten, wegen ihrer klaren Analyse und dem darin enthaltenen Aufruf zu radikalen Reformen im Vorkonklave für Aufsehen.
Ortega bat um Redemanuskript
Ortega bat Bergoglio später um eine schriftliche Fassung, die dieser ihm handschriftlich anfertigte. Das Manuskript mit der kleinen, aber gut lesbaren Handschrift zirkuliert nun im Internet.
Der Text beginnt mit der These, dass die Verkündigung des Evangeliums der eigentliche Daseinszweck der Kirche sei. Daher sei die Kirche aufgerufen, aus sich selbst herauszugehen und sich an die Grenzen der menschlichen Existenz vorzuwagen. Bergoglio greift damit den in der Befreiungstheologie beliebten Begriff der Orientierung hin zur „Peripherie“ auf: Nur wenn sich die Kirche an jene wendet, die am Rand der Gesellschaft stehen, erfüllt sie den Auftrag Jesu. Zugleich deutet er ihn um: die Kirche müsse auch an die Ränder der menschlichen Existenz gehen, dazu zählten „die Sünde, der Schmerz, die Ungerechtigkeit und jede Form von Elend“.
„Theologischer Narzissmus“
Hart urteilt Bergoglio in seiner Rede über bestimmte Formen der klerikalen Eitelkeit und über die Beschäftigung der Kirche mit sich selbst. Er erklärte, wenn die Kirche nur auf sich selbst schaue, werde sie «selbstreferenziell» und verfalle einem „theologischen Narzissmus“. Sie täusche nur noch vor, dass Jesus Christus in ihr sei; in Wahrheit aber entferne sie sich von ihm.
So entstehe ein Übel, das Bergoglio mit einem Zitat des Konzilstheologen Henri de Lubac (1896-1991) auch schon in früheren Äußerungen als „geistliche Mondänität“ bezeichnete. Es ähnelt dem von Papst Benedikt XVI. kritisierten Phänomen der „Verweltlichung“ der Kirche und führe zu einer Art innerkirchlicher Eitelkeit, die abstoßend wirke und das klare Licht des Evangeliums verdunkele.
„Veränderungen für die Rettung der Seelen“
Letztlich gebe es nur zwei Kirchenbilder, betonte Bergoglio am Ende seiner Rede: die Kirche, die Gottes Wort hört und es treu verkündet, und eine „verweltlichte Kirche, die in sich, von sich und für sich lebt“. In diesem Licht, so schloss Bergoglio seine Ausführungen, müsse man „mögliche Veränderungen und Reformen sehen, die notwendig sind für die Rettung der Seelen“.
Mit der Bergoglio-Rede aus dem Vorkonklave ist nun erstmals schriftlich eine Art Programm des Franziskus-Pontifikates veröffentlicht. Sie hat ein vergleichbares Gewicht wie jenes Programm, das Kardinal Joseph Ratzinger vor acht Jahren in seiner letzten Predigt vor dem Konklave in seiner inzwischen historischen Kampfansage an die „Diktatur des Relativismus“ formulierte.
Bergoglios angekündigte radikale Neuorientierung der Kirche dürfte weitreichende Veränderungen nach sich ziehen.