domradio.de: Ihr Thema in der Michaeliskirche war "Krieg und Frieden". Da denkt man im Moment schnell an islamistischen Terrorismus. Wo sehen Sie in dem Zusammenhang die Rolle von Religion?
Gregor Gysi (Mitglied des Bundestags, Die Linke, Vorsitzender der Europäischen Linken): Ich habe versucht zu erklären, weshalb Religion und Kirchen in unserer Gesellschaft so wichtig sind. Ich habe - obwohl ich selbst nicht an Gott glaube - versucht, der Gemeinde zu erklären, dass ich eine gottlose Gesellschaft ganz furchtbar fände. Und zwar schon aus folgenden Gründen: Erstens sind die Religions- und Kirchengemeinschaft Bestandteil unserer Kultur, und zweitens sind zurzeit nur die Kirchen- und Religionsgemeinschaften in der Lage, allgemeinverbindliche Moralnormen aufzustellen. Die Linke konnte das mal, aber seit dem Scheitern des Staatssozialismus kann sie zwar Moralnormen aufstellen, die sind dann nur nicht allgemeinverbindlich. Der Kapitalismus ist auf Konkurrenz aus, das heißt, für den einen ist es besser, wenn der andere pleitegeht; auch das hat alles wenig mit Moral zu tun. Wenn wir also die Kirchen und die Religionsgemeinschaften nicht hätten, gäbe es keine verbindliche Moral. Über dieses Bild kann man sich dann auch dem Thema "Frieden und Krieg" nähern. Dazu habe ich den Römerbrief aus Kapitel 12 ausgesucht und die Verse 17 bis 21 vorgelesen.
domradio.de: Nun schwinden aber gerade die Kirchenmitgliederzahlen. Ist das auch eine Gefahr für Moral und für Werte in unserer Gesellschaft?
Gysi: Ja, denn unsere Gesellschaft hat sich verroht. Wissen Sie, einen bestimmten Grad an Antisemitismus und Rassismus gab es in der Gesellschaft immer. Aber wie offen der jetzt vorgetragen wird, das ist neu. Früher hieß es: "Ich bin kein Rassist, aber ... " Heute zählt alles bis zum Wort "aber" - das ist neu. Das heißt, man hält es für etabliert, man geht davon aus, dass man so sein darf. Wir müssen uns auch damit beschäftigen, dass wir in den USA einen Rechtstrend haben, genauso wie schon länger in Frankreich, Ungarn, Polen, Finnland, Dänemark; also in vielen Ländern. Bei uns in Deutschland kam der erst etwas später.
domradio.de: Woran machen Sie das fest?
Gysi: Das hat zwei Gründe. Zum einen geht es Deutschland ökonomisch besser als anderen Staaten. Zweitens: Bei uns waren die Hemmungen aufgrund unserer Vorgeschichte der Nazi-Diktatur größer; aber auch die sind mittlerweile überwunden.
domradio.de: Müssen die Kirchen aktiver werden und in der Öffentlichkeit anders auftreten, wenn und weil der Rechtspopulismus so stark geworden ist?
Gysi: Man muss erklären, dass eine globalisierte Wirtschaft dazu führt, dass auch die Menschheit zusammenrückt. Dann muss man sagen, dass es früher so war, dass viele Menschen in Afrika gar nicht wussten, wie wir in Europa so leben. Nun haben sie ein Handy - technische Revolution haben auch immer Folgen. Nun wissen sie wie wir leben. Damit rücken die Probleme immer näher. Früher konnte man vielleicht noch sagen, dass afrikanische Probleme afrikanische und keine europäischen Probleme sind. Das geht heute nicht mehr. Heute sind es auch europäische Probleme. Die Europäische Union ist aber gerade in einer Existenzkrise. Auf all das muss man eingehen. Und wissen Sie, man muss den Menschen vor allem das Ohnmachtsgefühl nehmen. Die Unübersichtlichkeit macht Angst. Das gilt übrigens noch mehr für die Menschen im Osten, weil die 1990 soziale Verwerfung erfahren haben, wie sie glücklicherweise in den alten Bundesländern kaum jemand jemals erleben musste. Deshalb sind die Ängste dort größer. All das hat Folgen.
domradio.de: Man muss den Menschen also viel vermitteln. Sind die Kirchen und Religionsgemeinschaften in der Aufgabe zu zaghaft?
Gysi: Ja! Also wir waren alle zu zaghaft. Wir haben die abstrakten Ängste unterschätzt. Dort, wo Menschen muslimischen Glaubens leben, wie zum Beispiel in Kreuzberg, da wird kaum rechtsextrem oder populistisch gewählt, sondern nur da, wo es sie gar nicht gibt. Wie viele Muslime leben denn in Dresden? Vier oder fünf? Keine Ahnung, es sind auf jeden Fall sehr wenige. Politik, Kirchen, Gewerkschaften, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst und Kultur: Wir müssen begreifen, dass es gemeinsame Aufgaben gibt, wenn wir einen Rechtstrend in Deutschland und damit auch in Europa stoppen wollen.
domradio.de: Das heißt, wir brauchen heute eine Reformation, also eine Änderung unseres Verhaltens, unserer Art zu arbeiten und mit diesen Themen umzugehen?
Gysi: Genau. Deswegen wird das Reformationsjahr auch so angenommen. Wenn wir jetzt eine zufriedene Zeit hätten, wäre das eher eine Art Spielwiese. Aber nein, nein, nein - die Menschen sind wirklich interessiert am Reformationsjahr. Viele sind durcheinander, sie verstehen die Entwicklung heutzutage nicht mehr. Wissen Sie, im Kalten Krieg, war alles klar eingeteilt. Heute ist dagegen alles durcheinander und wirr. Ich nenne immer folgendes böses Beispiel: Osama bin Laden wäre im Kalten Krieg entweder an den sowjetischen oder an den amerikanischen Geheimdienst gebunden gewesen und die hätten verhindert, dass er ausflippt. Wenn er doch ausgeflippt wäre, dann hätte er in beiden Fällen einen Verkehrsunfall gehabt. Das mal so unter uns Pfarrerstöchtern gesagt, wie es so schön heißt. Heute sind da frei schwebende Kräfte, die auf ihre Art agieren. Die Situation wird gar nicht mehr beherrscht. Es geht um Einflusssphären: Russland möchte einen bestimmten Einfluss behalten, der Westen will ihm den nicht gönnen. Deswegen haben wir den Ukraine-Konflikt und den Syrienkrieg. All das muss überwunden werden.
domradio.de: Glauben Sie, dass das Reformationsjahr auch da ein Impuls sein kann, um wieder Ordnung ins Denken zu bringen?
Gysi: Das hoffe ich. Es ist wichtig, zum Beispiel daran zu erinnern, dass der Ablasshandel damals zu einer Geldverdienmaschine missbraucht worden ist. Die größte Leistung von Luther ist zweifellos die Übersetzung der Bibel. Das ist sehr volksnah gewesen. In meiner Kanzelrede habe ich gesagt: "Jetzt stehen wir schon wieder vor der Frage, wer die juristische, die politisch und die Computersprache übersetzt." Luther hat das bei der Bibel gemacht. So etwas Ähnliches wie den Ablasshandel haben wir auch heute. Nämlich in der Form, dass an Kriegen viel zu viel verdient wird. Das heißt, man kann lauter aktuelle Bezüge herstellen und den Regierenden sagen: "Passt auf, es kann auch eine Bewegung geben, die sich ganz dagegen stellen wird!" Die muss dann gar nicht unbedingt links sein, die kann auch ganz rechts sein, was mir großen Schrecken einjagt. Deswegen war ich auch bereit, Präsident der Partei der Europäischen Linken zu werden, denn ich kritisiere die EU scharf. Aber ich möchte sie retten, weil wir sie für den Frieden dringend nötig haben."
Das Interview führte Christoph Paul Hartmann.