Anfang August 1941 herrscht in den Führungsgremien der NSDAP Aufregung. In Martin Bormanns Partei-Kanzlei wird Berichten zufolge vorgeschlagen, den verhassten Münsteraner Bischof Clemens August Graf von Galen (1878-1946) endlich aufzuhängen, am besten am Turm der Kirche St. Lamberti. Propagandaminister Goebbels habe davor gewarnt, ihn vor den Volksgerichtshof zu stellen - dann könne man das ganze katholische Westfalen abschreiben.
Schließlich soll Hitler entschieden haben, mitten im Krieg wolle man keine Märtyrer schaffen, er spare sich die Abrechnung mit Galen und seinen Anhang für später auf. Was ist geschehen? Am 3. August 1941, vor 75 Jahren, hat der Katholik Galen in St. Lamberti in Münster eine unerhörte Predigt gehalten.
Hitlers Euthanasieprogramm
Er informierte die Öffentlichkeit von der Kanzel herab über den heimlichen NS-Massenmord an Behinderten und psychisch Kranken und übte scharfe Kritik: «Hast du, habe ich nur so lange das Recht zu leben, so lange wir produktiv sind, so lange wir von anderen als produktiv anerkannt werden? Wenn man den Grundsatz aufstellt und anwendet, dass man den 'unproduktiven' Mitmenschen töten darf, dann wehe uns allen, wenn wir alt und altersschwach werden!»
Hitler persönlich hatte das "Euthanasieprogramm" T4 im Oktober 1939 angeordnet. Aus Heimen und Spitälern wurden Epileptiker, Schizophrene oder Verhaltensgestörte abgeholt, zu Hunderten und Tausenden. Unauffällige graue Busse transportierten sie in zentrale Anstalten, wo sie in Gaskammern geführt wurden, die als Duschräume getarnt waren.
Zwangssterilisierung: Scharfe Kritik des Vatikan
70.000 bis 100.000 Opfer hat die von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkte, mit makabrer Routine ablaufende Aktion nach vorsichtigen Schätzungen gefordert. Eine Ärztekommission hatte zuvor per Fragebogen in sämtlichen Heil- und Pflegeanstalten des Reiches erfasst, wer getötet werden sollte.
"30.000 Geisteskranke, Epileptiker usw." würden in deutschen Anstalten gepflegt, hieß es unter NS-Herrschaft in Schulbuchaufgaben. "Was kosten diese jährlich insgesamt bei einem Tagessatz von vier Reichsmark? Wie viel Ehestandsdarlehen zu je 1.000 Reichsmark könnten von diesem Geld jährlich ausgegeben werden?"
Solch perfide Propaganda trug schon lange vor Beginn der eigentlichen Tötungsaktion Früchte: Das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" vom 14. Juli 1933 ordnete die Zwangssterilisierung von psychisch Kranken, Blinden oder Alkoholikern an. Es stieß auf scharfe Kritik des Vatikans, aber nur auf verhältnismäßig zurückhaltenden Widerstand der deutschen Bischöfe.
Predigt wird in ganz Deutschland bekannt
Als die generalstabsmäßig organisierte "Euthanasie" anlief, war Clemens August Graf von Galen der erste Bischof, der das Mordprogramm in aller Öffentlichkeit von der Kanzel herab zum Thema machte. Am 3. August donnerte er in seiner Predigt: "Dann wehe den Invaliden, die im Produktionsprozess ihre gesunden Knochen eingesetzt, geopfert und eingebüßt haben! ( ) Dann braucht nur irgendein Geheimerlass anzuordnen, dass das bei Geisteskranken erprobte Verfahren auf andere 'Unproduktive' auszudehnen ist, dass es auch bei den unheilbar Lungenkranken, bei den Altersschwachen, bei den Altersinvaliden, bei den schwerkriegsverletzten Soldaten anzuwenden ist. Dann ist keiner von uns seines Lebens mehr sicher!"
Die Predigt wird in ganz Deutschland bekannt, auch von vielen evangelischen Kanzeln verlesen. Abschriften gehen durchs Land. Sekretärinnen tippen nachts im Büro heimlich Durchschläge, in den Familien werden Abschriften mit der Hand angefertigt und an Freunde weitergeschickt, Fahrgäste lassen den Text in der Eisenbahn liegen.
Graf von Galen wird zum Wortführer der Regimekritiker
Hitler stoppt das offizielle Mordprogramm tatsächlich, es endet am 24. August. In verringertem Umfang aber geht die sogenannte "wilde Euthanasie" weiter, nicht mehr in den Gaskammern, sondern mit tödlichen Spritzen oder schlicht durch Nahrungsentzug. Nach Schätzungen wurden insgesamt zwischen 200.000 und 300.000 Behinderte und psychisch Kranke ermordet.
Clemens August Graf von Galen aber, zu Beginn seiner kirchlichen Laufbahn noch stramm nationalkonservativ und ein Gegner der Weimarer Republik, war mit seiner mutigen Predigt in St. Lamberti endgültig zum Wortführer eines offensiven regimekritischen Kurses innerhalb der katholischen Bischofskonferenz geworden. Kurz vor seinem Tod im März 1946 ernannte ihn Papst Pius XII. zum Kardinal. 2005 sprach ihn sein deutscher Landsmann Benedikt XVI. selig.