domradio.de: Warum ist das Armutsrisiko für eine pflegende Person hoch?
Susanne Hallermann (Verein Armut durch Pflege): Es ist immens groß und zwar in zwei Bereichen: zum einen gibt es die soziale Armut, die Isolation, die Einschränkungen bei der gesellschaftlichen Teilhabe. Und der zweite Punkt ist das Finanzielle und das ist zentrales Thema in unserem Verein, seit wir die Interessenvertretung pflegender Angehöriger gegründet haben. Mittlerweile sind wir von einer kleinen AG zu einer bundesweiten Initiative gewachsen, weil so viele Menschen betroffen sind und wir mit den Betroffenen gemeinsam auf das Thema aufmerksam machen wollen zeigen wollen, wie die Realität aussieht.
Die finanzielle Armut ist das, was als erstes ins Auge fällt, weil viele pflegende Angehörige nicht mehr beruflich tätig sein können. Sie müssen teilweise ihre Arbeit reduzieren oder sie sogar ganz aufgeben. Sie verbrauchen ihre finanziellen Reserven, sodass sie nachher Arbeitslosengeld II erhalten. Hartz IV, das geht schneller als man denkt. Wir wollen auf dieses Problem aufmerksam machen, die Hintergründe beleuchten und nach Lösungen suchen.
domradio.de: Was leisten pflegende Angehörige?
Hallermann: Meine persönlichen Erfahrungen sind ganz typisch, weil ich als pflegende Frau zu den 85 Prozent gehöre, die die Pflege der Angehörigen übernehmen: Ich war voll berufstätig in einer gut bezahlten Leitungsfunktion und habe mich um meine an Demenz erkrankte Oma gekümmert. Und je dementer und betreuungsbedürftiger sie wurde, desto mehr habe ich meine Arbeit reduziert, bis es gar nicht mehr ging, weil ich mich Tag und Nacht um sie kümmern musste. Ich habe dann meine Arbeitsstelle gekündigt und bin sofort in Hartz IV gerutscht. So ergeht es Tausenden.
Es gibt derzeit 2,9 Millionen Pflegebedürftige in Deutschland, fast 75 Prozent werden zuhause betreut und eine Studie der Hans-Boeckler-Stiftung hat kürzlich versucht die Situation der Pflegenden zu beleuchten: 1024 Personen wurden dafür befragt und dabei kam heraus, dass die durchschnittliche Wochenarbeitszeit, die sie für die Pflege aufwenden, durchschnittlich bei 63 Stunden liegt.. Das zeigt, warum die Menschen ihre bezahlten Tätigkeiten reduzieren oder aufgeben müssen.
domradio.de: Zum 1. Januar 2017 trat das Pflegestärkungsgesetz in Kraft, mit dem pflegende Angehörige besser unterstützt werden sollen, auch durch die Zahlung von Rentenbeiträgen. Sie kritisieren das. Warum?
Hallermann: Unsere Initiative "Armut durch Pflege" hat diese Rentenzahlen erstmals offengelegt und aktualisiert die Rentenbeträge pflegender Angehöriger jährlich auf Ihrer Webseite. Die Rentenberechnungen sind sehr kompliziert und in der Broschüre der Rentenversicherung steht: "Ihr Einsatz lohnt sich!". Tatsächlich sind durch das neue Pflegestärkungsgesetz die Rentensätze leicht angehoben worden, aber das sind Cent-Beträge. Das ist eine Vorspiegelung falscher Tatsachen, denn pflegende Angehörige sind nicht ausreichend abgesichert.
Zum Beispiel bei Pflegegrad 5, das ist die höchste Stufe, die man erhalten kann, bekommt die pflegende Person pro Jahr Pflege später 29,75 Euro zusätzlich monatliche Rente. Aber nur, wenn sie keine fachliche Hilfe in Anspruch nimmt. Wenn ich mir hingegen Hilfe durch ambulante Pflegekräfte nach Hause hole, wird mir das prozentual abgezogen. Aber Pflegegrad 5 bedeutet: 24 Stunden Pflege, das schafft man gar nicht alleine.
Im Endeffekt ist es so, dass Angehörige durchschnittlich 9,3 Jahre pflegen, nicht ausreichend sozial abgesichert sind, oftmals nur in Teilzeit arbeiten oder von Hartz IV leben und eben auch keine eigenen Rentenbeiträge haben. Und die Mehrzahl sind Frauen, sodass die Altersarmut vorprogrammiert ist und das, obwohl pflegende Angehörige dem Sozialstaat und der Gesellschaft hohe Kosten ersparen.
domradio.de: Warum kümmert sich die Politik nicht, wenn doch klar ist, dass es immer mehr Pflegebedürftige geben wird und häusliche Pflege den Staat weniger kostet?
Hallermann: Das ist genau der Punkt: Aus staatlicher Sicht ist die Pflege zu Hause das günstigste Pflegemodell und auf der anderen Seite hat eine Studie des Bundesgesundheitsministeriums auch ergeben, dass sich 90 Prozent der Menschen wünschen, so lange wie möglich zu Hause in ihrem gewohnten Umfeld zu bleiben.
Aber die Menschen, die pflegen sind sehr eingebunden und es ist ungeheuer anstrengend, sich mit den Behörden, dem MDK (Medizinischer Dienst der Krankenversicherung, Anm. d. Red.) oder den Pflegekassen auseinanderzusetzen und Ansprüche durchzukämpfen. Viele haben dann keine Kraft mehr, für sich selber zu sprechen, deswegen ist es so wichtig, dass es unsere bundesweite Interessenvertretung gibt, eine Stimme für pflegende Angehörige, immer mit und für Betroffene. Wir machen Lobbyarbeit und wollen politisch Einfluss nehmen, um Verbesserungen zu erreichen. Das schaffen einzelne pflegende Angehörige nicht und die Politik ruht sich darauf aus, solange der Protest nicht laut genug ist.
domradio.de: Welche konkreten politischen Forderungen haben Sie und Ihr Verein?
Hallermann: Pflegende Angehörige des Vereins haben elf Leitlinien entwickelt, aus denen wir unsere Forderungen ableiten. Beim Thema "Armut" fordern wir, dass pflegende Angehörige ausreichend sozial abgesichert sind, und zwar mit Rechtsanspruch. Dass sie parallel zum Elternzeitmodell beruflich freigestellt werden können, mit den entsprechenden finanziellen Ausgleichszahlungen.
Bisher ist es so, dass man sich freistellen lassen kann, aber das ist sehr kompliziert und die Pflegenden müssen einen zinslosen Kredit aufnehmen, den sie aber hinterher auch wieder abzahlen müssen. Das macht kaum einer, bislang haben knapp über 300 Familien diese Option in Anspruch genommen, somit ist dies ein Gesetz, das überhaupt nicht greift. Wenn pflegende Angehörige den Sozialstaat entlasten und Familie leben, in guten wie in schlechten Zeiten, brauchen sie ein gesicherters finanzielles Grundgehalt.
Pflege ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und darf nicht auf den einzelnen Familien lasten. Und dazu gehört, dass wir pflegende Angehörige verständlich und unabhängig informieren und im Pflegeprozess begleiten, denn auch das ist in dieser Studie herausgekommen: Bildungsferne Schichten wissen überhaupt nicht, welche Möglichkeiten ihnen zustehen und haben oftmals auch nicht die Chance und die Mittel, ihre Rechte einzuklagen. Das ist eine große soziale Ungerechtigkeit. Pflegende Angehörige müssen sozialversichert werden und zwar so, dass es dem tatsächlichen Pflegebedarf entspricht. Die Menschen dürfen auf keinen Fall in Hartz IV rutschen, das ist diskriminierend und sie müssen auch nach der Pflege abgesichert sein, denn man braucht auch bei der Rückkehr in das "normale Leben" und in bezahlte Arbeit sehr viel Unterstützung und muss in der Zeit abgesichert sein.
domradio.de: Angesichts aller dieser Folgen muss man ja eigentlich verrückt sein, sich für die Pflege zu entscheiden, oder?
Hallermann: Pragmatisch betrachtet: ja. Logisch ist das nicht, aber es ist genau das, was ganz viele Menschen machen möchten, und das mit vollem Herzen, weil es um die Menschen geht, die man liebt und denen man etwas zurückgeben möchte. Deswegen ist es so eine Schande.
Wenn die Unterstützungsmöglichkeiten einfacher wären – und andere europäische Länder machen uns das vor – dann wäre das auch alles vereinbar: Familie, Pflege, Kinder und Beruf. Wenn es ein gutes Hilfsnetzwerk gibt, kann man das schaffen. Die entscheidende Frage ist: Betrachten wir das als gesamtgesellschaftliche Aufgabe? Dann brauchen wir mehr Geld, das bei den Pflegenden und den Pflegebedürftigen ankommt. Oder belassen wir die Last bei den Familien? Dann wird das System irgendwann zusammenbrechen, deswegen ist wirklich ein Paradigmenwechsel in der Pflegepolitik nötig.
domradio.de: Würden Sie persönlich wieder so entscheiden?
Hallermann: Auf jeden Fall. Ich habe fast 20 Jahre lang meine Oma zu Hause gepflegt und meinen Vater parallel im Altenheim begleitet, auch da ist man ja pflegender Angehöriger, weil man sich um vieles kümmern muss. Und ich würde es wieder machen, obwohl ich meinen Job verloren habe und in Hartz IV geraten bin mit allen diskriminierenden Folgen. Aber ich habe genau das getan, was ich meiner Oma und meinem Papa versprochen habe, nämlich so lange, wie ich es schaffe, für sie da zu sein und ihnen etwas zurückzugeben. Wir sind als Familie in der Zeit sehr zusammengewachsen und hatten auch eine wunderschöne Zeit. Deswegen setze ich mich heute dafür ein, dass andere Pflegende diese Möglichkeit auch bekommen, aber unter weit besseren Bedingungen.
Das Interview führte Ina Rottscheidt.