Tragen Christen zur Ungerechtigkeit auf der Welt bei?

Zwischen Tradition und Gerechtigkeit

An diesem Donnerstag startet das Theologische Forum in Bamberg mit dem Thema "(Un-)Gerechtigkeit!?". Christen sollten sich für Gerechtigkeit einsetzen. Aber tun sie das aktuell? Und wie gerecht ist die Kirche selbst?

Obdachlose im Vatikan / © Stefano dal Pozzolo/Romano Siciliani (KNA)
Obdachlose im Vatikan / © Stefano dal Pozzolo/Romano Siciliani ( KNA )

DOMRADIO.DE: Es geht um Gerechtigkeit beim Theologischen Forum in diesem Jahr. Warum ist Ihnen dieses Thema wichtig?

Alexander Schmitt (Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Fundamentaltheologie und Dogmatik an der Uni Bamberg): Am Anfang steht für uns eigentlich immer die Einsicht oder die Erfahrung, dass es faktisch auf der ganzen Welt Leid in ganz unterschiedlicher Art gibt.

Als Beispiel könnte man den neulich erschienenen Welthunger-Index heranziehen. Der hat zum Beispiel gezeigt, dass wir im Kampf gegen den Hunger eigentlich wieder zurückgeworfen sind und dass der Hunger vor allem strukturelle Gründe hat. Und da die Kirche, die Theologie, wir als Christinnen und Christen natürlich zum Heil der Menschen, zu einem gelingenden Leben aller beitragen wollen, stehen wir trotzdem oft ziemlich ratlos und schockiert vor diesem ganzen Leid.

Wir merken, dass wir auf diese Tatsache des Leides ja praktisch und auch theoretisch irgendwie eine Antwort geben müssen. Wir müssen doch angeben können, worin dieses Heil für alle Menschen konkret besteht.

Meiner Wahrnehmung nach sprechen wir im Christentum oft recht vorschnell davon, dass wir zu einem Heil und zu einem gelingenden Leben beitragen. Trotzdem müssen wir uns aber immer wieder ganz grundsätzlich fragen, ob wir das ausreichend tun oder ob wir in manchen Bereichen sogar die Ungerechtigkeit mit unserer Praxis oder mit unserer Theorie fördern.

DOMRADIO.DE: Aber wonach bemessen wir eigentlich, was gerecht und was ungerecht ist?

Schmitt: Das ist eine wirklich schwierige Frage. Ich will gleich voraus ausschalten, dass Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit natürlich sehr komplexe Prozesse sind. Wir müssen die immer wieder neu thematisieren und reflektieren. Trotzdem hat Ungerechtigkeit immer eine sehr handfeste Konsequenz. Und zwar, dass das Leben immer in irgendeiner Form eingeschränkt wird, wenn nicht sogar zerstört, wie es zum Beispiel beim Welthunger-Index deutlich gemacht wird.

Wenn ich aber irgendein Kriterium, das mir wichtig wäre, für diese Frage nach Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit angehen müsste, dann wäre es für eine Befreiungstheologie oder für eine befreiende Theologie, der ich sehr nahe stehe, immer das Leben in Fülle, das Gott den Menschen zusagt.

Das heißt, dass eine Praxis – kirchlich, gesellschaftlich oder christlich – oder eine Theologie eben immer nur dann gerecht ist, wenn sie tatsächlich zu einem solchen gelingenden Leben in Fülle beitragen und eben nicht zu einem Leben im Mangel. Zu einem Leben, wo auch jeder wirklich das bekommt, was ihm oder was ihr wirklich zusteht, was er oder sie wirklich braucht.

Diese Fülle kann natürlich ganz Unterschiedliches bedeuten. Angefangen beim lebensnotwendigen Brot, bei Wasser, über psychische Gesundheit ohne Sorgen, Bildung, aber eben auch bis hin zu Anerkennung, zu Respekt, Gleichheit, Gleichwertigkeit. All das macht alles zusammen ein wirkliches Leben in Fülle aus.

DOMRADIO.DE: Wenn man das auf die Rolle der Frau in der Kirche bezieht, trägt dann die Position der Kirche auch zu Ungleichheiten in der Beurteilung bei? Da steht sozusagen Tradition gegen Gerechtigkeit. Was von beidem ist jetzt wichtiger?

Schmitt: Wenn wir tatsächlich dieses Kriterium eines Lebens in Fülle ansetzen, womit auch, wie ich gesagt habe, diese Anerkennung, die Gleichheit, Gleichwertigkeit, Gleichstellung gemeint ist, würde ich sagen, dass kirchliches Handeln hier tatsächlich zu Ungerechtigkeit beiträgt. Denn für ein Leben in Fülle macht es letztlich einen Unterschied, ob mir Ämter verwehrt bleiben, mit denen allein bestimmte Entscheidungsvollmachten einhergehen.

Sie haben jetzt schon die Frage angesprochen: Steht Tradition, mit der die Kirche ja zum Beispiel das Verbot für die Frauenpriesterweihe begründet, gegen Gerechtigkeit? Und da würde ich sagen: Ein sehr unkritisches Traditionsverständnis, dass Tradition letztlich als eine bloße Weitergabe des Überlieferten ansieht, kann durchaus Ungerechtigkeit entstehen lassen.

Ich ziehe da gerne den ersten Thessalonicherbrief heran, das ist immerhin das älteste Schriftstück des Neuen Testaments. In dem schreibt Paulus: Prüfet aber alles, und das Gute behaltet. Und im Umfeld dieses Textes geht es ja um eine gerechte Gemeindeordnung. Deswegen würde ich diesen Satz gern interpretieren als "Prüft alles und behaltet das Gerechte". Warum sollte man nämlich etwas vor dem Hintergrund der Heilszusage Gottes an die Menschen tradieren, das sich dann als ungerecht herausstellt?

DOMRADIO.DE: Auch wenn es ums kapitalistische Wirtschaft geht, liegt die Gerechtigkeitsfrage nahe, sagen Sie. Inwiefern?

Schmitt: Genau. Kapitalismuskritik, die auch eine lange Tradition in der Befreiungstheologie hat, ist ein sehr komplexes Thema. Da müsste man sich sehr eingehend mit beschäftigen. Aber grob gesagt: Kapitalistisches Wirtschaften führt ja letztlich immer dazu, dass bei reichen Menschen, Kapital besitzenden Menschen, immer mehr Kapital angehäuft wird und die Armen im Schnitt immer weniger zum Leben haben.

Das heißt, auf der einen Seite muss unser christliches Handeln oder auch unser christliches Denken eine strukturelle Antwort auf dieses fundamental kapitalistische Problem finden. Auf der anderen Seite muss die Theologie natürlich berücksichtigen, dass auch wirtschaftliche Strukturen selber Orte sind, wo sich etwas wie Menschwerdung, Heilwirkung ereignen muss. Auch wirtschaftliche Strukturen können nämlich Unheil und Ungerechtigkeit sein.

Und das heißt in der Konsequenz: Wenn wir als Christinnen und Christen vom Reich Gottes sprechen, wenn wir von einem Leben in Fülle sprechen, dann ist die Wirtschaft – und vor allem die kapitalistische Wirtschaft – eben nicht einfach ein Bereich, der erst nach der Theologie kommt, sondern der selbst zutiefst theologisch ist.

DOMRADIO.DE: Warum ist es aus Ihrer Sicht ganz wichtig, praktische Fragen bei diesem Forum zu diskutieren?

Schmitt: Ich glaube, dass die praktische Frage vor allem mit diesem Kriterium des Lebens in Fülle zu tun hat. Nur über praktische Fragen entscheidet sich ja dann, ob sich dieses Leben in Fülle auch wirklich realisiert. Nur so kann das Reich Gottes, von dem wir ja immer so viel sprechen und auch zu Recht sprechen, wirklich konkret werden.

Die theologische Reflexion ist alles andere als unwichtig. Aber letzten Endes, wenn es um den Dienst an einer menschlichen Praxis geht, bei der Praxis des Lebens in Fülle, dann sind die primären Fragen immer die praktischen Fragen.

Das Interview führte Dagmar Peters.


Quelle:
DR