"Dieses Buch wird eine neue wissenschaftliche Diskussion über die katholische Kirche und den Faschismus auslösen." Da ist der Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf sich ziemlich sicher. Im Mittelpunkt des am Donnerstag auf Deutsch erscheinenden Werks "Der Erste Stellvertreter" von US-Historiker David I. Kertzer steht ausnahmsweise nicht Papst Pius XII. (1939-1958), sondern dessen Vorgänger, Pius XI. (1922-1939).
Ohne ihn, so die These Kertzers in seinem mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Buch, wäre Mussolini nicht denkbar gewesen. Für viele Historiker war Pius XI., mit bürgerlichem Namen Achille Ratti, das positive Gegenbild zu Pius XII.: ein Kirchenoberhaupt, das auf der Seite der verfolgten Juden stand, Hitler 1937 durch die Enzyklika "Mit brennender Sorge" mit deutlichen Worten in die Schranken wies und auch noch eine Enzyklika gegen Antisemitismus in Auftrag gab.
"Pakt mit dem Teufel"
"Nach der Lektüre von Kertzers exzellent geschriebenem Buch wird man dieses Geschichtsbild revidieren müssen", schreibt Wolf im Vorwort der deutschen Ausgabe. "Aus der einstigen Lichtgestalt wird ein, wenn auch tragischer Dunkelmann." Kertzer, der sich auch auf die 2006 freigegebenen Akten des Vatikan zum Pontifikat Pius XI. stützt, beschreibt anschaulich die Hintergründe dieses "Pakts mit dem Teufel".
Nach 1860 wurden immer mehr päpstliche Territorien in den neu gegründeten italienischen Staat eingegliedert. 1870 besetzte die italienische Armee auch Rom; Papst Pius IX. erklärte sich zum Gefangenen im Vatikan, exkommunizierte König und Regierung und befahl allen italienischen Katholiken, das öffentliche Leben zu boykottieren. Ein für beide Seiten höchst unangenehmer Zustand, den erst Pius XI. und Mussolini beendeten.
Parallelen zwischen Mussolini und Ratti
Kertzer sieht zahlreiche Parallelen zwischen den beiden Männern, die 1922 an die Macht gelangten: Mussolini und Ratti waren beide Aufsteiger, standen für totalitäre Vorstellungen, lehnten Demokratie ab und forderten unbedingten Gehorsam. "Ratti wollte einen katholischen, Mussolini einen faschistischen Staat, gemeinsam bekamen sie einen klerikal-faschistischen", so bringt es Wolf auf den Punkt.
Kertzer beschreibt, wie der Papst die Herrschaft Mussolinis stabilisierte, indem er insbesondere die katholische Volkspartei blockierte und der Laienbewegung "Katholische Aktion" strenge Zügel anlegte. Mussolini, eigentlich ein Kirchenhasser, gewährte der Kirche aus taktischen Gründen Privilegien, verschaffte Priestern und Bischöfen mehr Geld, ließ Religionsunterricht einführen und unliebsame Bücher verbieten.
Pakt auf wackligem Fundament
Immer wieder stand die Zusammenarbeit vor dem Scheitern. Dennoch konnten sich beide Seiten bis 1929 auf wichtige Verträge einigen: In den Lateranverträgen erkannte der Papst die Stadt Rom als Sitz der italienischen Regierung an, während der Staat die Souveränität des Vatikans garantierte. Das zugleich unterzeichnete Konkordat regelte die Position der Kirche in Italien. Der Katholizismus wurde zur Staatsreligion.
Pius XI. fand starke Worte für Mussolini: "Vielleicht war ein Mann nötig, wie ihn uns die Vorsehung hat treffen lassen", erklärte er. Doch der Pakt stand auf wackeligem Fundament: Immer wieder forderte Mussolini die Unterordnung der Kirche. Und Pius XI. missbilligte zunehmend Mussolinis Annäherung an Hitler und den wachsenden rassistischen Antisemitismus.
"Geistlicher Semit"
Kurz vor seinem Tod erkannte Pius XI. seinen Fehler: Nach Mussolinis 1938 verabschiedeten Rassegesetzen versuchte der Papst, etwas für die verfolgten Juden zu tun. Er beauftragte den US-Jesuiten John La Farge, eine Enzyklika zu entwerfen, die jeden Rassismus verurteilen sollte. "Aus dem Antijudaisten wurde ein geistlicher Semit", so formuliert es Wolf im Vorwort.
Zu spät: Mussolini und Kardinalstaatssekretär Eugenio Pacelli bremsten das Vorhaben aus. Als Pius XI. am 10. Februar 1939 starb, entsorgte Pacelli die Mussolini-kritischen Unterlagen vom Schreibtisch. Selber wenige Tage später zum Papst gewählt, verfolgte Pacelli das Projekt der Enzyklika nicht weiter.