domradio.de: In seinem neuen Buch "Lussuria" (Wolllust) wirft der italienische Journalist Emiliano Fittipaldi dem Vatikan mangelnde Transparenz bei der Aufarbeitung von Missbräuchen vor. Was sagen Sie zu dieser Anschudligung?
Pater Hans Zollner (Leiter des Kinderschutzzentrums an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom und Mitglied der päpstlichen Kinderschutzkommission): Meines Erachtens ist das Anliegen des Buches sehr gut. Es beleuchtet Dinge, an denen wir seit Jahren arbeiten und auf die wir sowohl mit den Stellen hier im Vatikan als auch in der Päpstlichen Kinderschutzkommission immer wieder insistieren. Wir brauchen weiterhin eine bessere Transparenz in den Prozessen, sowohl für die Betroffenen und als auch für die Angeschuldigten. Außerdem müssen die Fälle schneller behandelt werden.
domradio.de: Also ist es gut, dass das Buch noch einmal alles zusammenfasst und wieder öffentliche Diskussionen auslöst?
Zollner: Natürlich! Das Buch hat allerdings zwei große Mängel: Es bleibt leider in seiner Bestandsaufnahme im Jahr 2014 – allerhöchstens Anfang 2015 – stehen. Außerdem legt der Autor dieses Mal im Gegensatz zu seinem vorigen Buch (zu den ökonomischen Fällen in den Vatikanbehörden) keine Dokumente vor, sondern beruft sich lediglich auf das, was schon seit einiger Zeit bekannt ist. Vor allem in Bezug auf Anschuldigungen gegen Priester hier in Italien. Das bringt das ganze Buch etwas in Misskredit, weil Behauptungen, die hier herumschwirren, in Rom schon seit Monaten bekannt sind, aber nicht durch Belege erhärtet wurden – und es auch jetzt nicht werden.
domradio.de: Unter engen Mitarbeitern von Papst Franziskus sind Leute wie etwa Kardinal Pell, der in seiner Heimat Australien unter Verdacht steht, Missbrauchsfälle vertuscht zu haben. Und dann ist da noch der Fall eines verurteilten Priesters, der unter Papst Benedikt laisiert wurde, dann aber unter Franziskus wieder in den Priesterstand aufgenommen worden sein soll. Konterkarieren solche Vorfälle nicht die Glaubwürdigkeit der Aufarbeitung und der Prävention?
Zollner: Natürlich schadet das dem öffentlichen Bild der Kirche. Zum angesprochenen Fall des italienischen Priesters kann ich nichts sagen, weil ich nicht in die Rechtsverfahren eingebunden bin. Zu Kardinal Pell dagegen kann ich einiges sagen, weil ich vor etwa zehn Monaten fünf Stunden lang mit Betroffenen aus der Schule gesprochen habe, die die Vorwürfe der Missbrauchsvertuschung gegen Kardinal Pell vorgebracht hatten. Sie waren extra nach Italien gereist, als Kardinal Pell hier in Rom durch die Royal Commission aus Australien verhört wurde. Ende Juli war ich zudem vor Ort in Australien, habe die Betroffenen noch einmal getroffen und das Präventionsprogramm der Schule kennengelernt; das alles während die Vorwürfe gegen Kardinal Pell noch einmal durch die nationalen Medien gingen.
Es hat aber bis heute keine Verurteilung gegeben, weder durch die Royal Commission, noch durch andere polizeiliche Kräfte in Australien oder sonst wo. Insofern müssen wir festhalten: Die Vorwürfe gegen Kardinal Pell beziehen sich offensichtlich auf Vermutungen und unbewiesene Anschuldigungen, rechtskräftig ist daraus nichts entstanden. Entgegen des Eindrucks, der vielleicht nach außen hin entstanden ist, liegen also keine Fakten gegen Kardinal Pell vor, es gibt keine einzige Anklage. Das heißt nicht, dass der Verdacht gegen ihn ausgeräumt ist. Aber nach den Regeln unseres Rechtsstaats ist bisher alles unbewiesen.
domradio.de: Fittipaldi wirft unterdessen der Päpstlichen Kinderschutzkommission vor, sie träfe sich zu selten und könne bislang keine Erfolge ihrer Arbeit vorweisen. Was ist Ihre Bilanz?
Zollner: Das ist einer der Faktoren, die uns als Mitglied dieser Kinderschutzkommission natürlich auch direkt betreffen. In dem Buch wird behauptet, dass wir uns nur drei oder vier Mal getroffen hätten. Das ist definitiv falsch. Tatsächlich haben wir uns acht Mal als Gesamtgruppe getroffen, dazu Dutzende Male in verschiedenen Arbeitsgruppen. Das ist genau einer der Faktoren, warum ich glaube, dass das Buch die Situation seit 2015 nicht wirklich aufgenommen hat und nicht beachtet hat, dass die Kommission in einigen anderen Dingen meines Erachtens großen Erfolg hatte.
Zum Beispiel waren wir zuletzt eingeladen, die neuen Bischöfe aus der ganzen Welt, die hier in Rom jeweils ihre Einführungskurse haben, zu den Themen Prävention von Missbrauch und Intervention und den zu führenden Prozessen zu sprechen. Wir haben allein in den vergangenen zwei Jahren etwa 70 bis 80 Schulungen von Bischofskonferenzen, Ordensoberenversammlungen, Leitern von katholischen Schulen, Rektoren von katholischen Universitäten oder anderen akademischen Institutionen zu diesem Thema abgehalten. Das geht alles auf die Initiative der Päpstlichen Kinderschutzkommission zurück. Das hat meines Erachtens mittlerweile auch weltweit ein Klima geschaffen, dass das Thema Intervention und Prävention von Missbrauch in der Kirche auf dem Tisch liegt und nicht mehr weggewischt werden kann. Das ist meines Erachtens der große Effekt, den diese Kommission produziert hat.
Auch haben wir den Papst in den letzten zwei Jahren zwei sehr deutliche Briefe an alle Bischöfe schreiben sehen; einer vom 2.2.2015 und der jüngste vom 28.12.2016. In den Schreiben hat er mit sehr klaren, eindeutigen Worten alle Bischöfe ermahnt, keine Priester einzusetzen, die verurteilt sind oder die unter Missbrauchsverdacht stehen. Darüber hinaus hat Franziskus in diesen Briefen auch noch einmal Transparenz angemahnt – gegenüber der Öffentlichkeit und in den Verfahren. Da ist noch viel zu tun. Vor allem, wenn wir auf die weltweite Situation schauen.
In Deutschland, im mitteleuropäischen Raum, haben wir die öffentliche Diskussion erst seit sieben Jahren, obwohl die Probleme teils Jahrzehnte zurückgehen. In anderen Teilen der Welt ist aus verschiedenen kulturellen und politischen Gründen die Diskussion überhaupt noch nicht angekommen. Die Kommission besteht aus Mitgliedern aller Kontinente und aus vielen Feldern; wir bemühen uns, dieses Thema auf die Agenda der lokalen Kirchen weltweit zu setzen. Das ist unsere große Anstrengung. Und ich glaube, dass wir da für die kurze Zeit, die diese Kommission existiert, durchaus etwas vorzuweisen haben.
domradio.de: Fittipaldi kritisiert besonders den Umgang der katholischen Kirche in Italien mit Missbrauch: Nur wenige Diözesen hätten Missbrauchsbeauftragte, Bischöfe sollen nach wie vor Priester in der Seelsorge eingesetzt haben, obwohl sie wegen sexuellen Missbrauchs vorbestraft waren oder unter Verdacht standen. Sollte da nicht eine neue Gesetzgebung des Vatikans ein Vorgehen gegen solche Fälle erleichtern?
Zollner: Die italienische Kirche ist über die letzten Jahre in dieser Frage sicher nicht sehr aktiv gewesen. Ich kann allerdings sagen, dass sich seit den vergangenen vier Monaten Veranstaltungen abzeichnen oder schon durchgeführt wurden, die auch in Italien eine allmähliche Änderung der Einstellung auch bei den Bischöfen und bei den Provinzialen anzeigen. Also auch da kommt die Botschaft an!
Außerdem ist es ja nicht so, dass der Papst eine neue Rechtsgebung eingeführt hätte. Die gibt es ja schon seit langem. Die Bischöfe wissen, was sie tun müssen, das ist von Rom klar vorgeschrieben worden. Das Problem ist, dass sie es oft nicht tun. Manchmal, weil sie sich selbst nicht auskennen mit der Rechtsprechung oder sie eben verschleppen oder aus persönlichen oder institutionellen Gründen nicht weiter verfolgen. Was der Papst gemacht hat, ist, die bestehende Rechtssprechung noch einmal klar zu machen und auch Bischöfen anzudrohen, dass sie mit Kirchenstrafen zu rechnen haben, wenn sie dieser nicht folgen. Das hatte im Übrigen schon vor und mit der Ankündigung den Effekt, dass einige Bischöfe abgesetzt wurden, genau aus diesen Gründen.
domradio.de: Wäre es nicht besser, die Aufarbeitung statt der Glaubenskongregation einer Einrichtung zu überlassen, die unabhängig von der Kurie und den Bischöfen arbeitet?
Zollner: Zum einen muss man sagen, dass die kirchliche Rechtssprechung ja nicht die staatliche ersetzt. Das ist eines der großen Missverständnisse, die immer kursieren, dass man denkt, die Kirche will das nur für sich selbst behandeln und hält das immer unter der Decke. Es ist klar gesagt worden in einem Brief aus der Zeit von Papst Benedikt in 2011 an alle Bischofskonferenzen der Welt, dass die Bischöfe mit den staatlichen Behörden zusammenarbeiten müssen – und zwar gemäß den jeweiligen Gesetzen des jeweiligen Staates. Da gibt es keine Ausflucht, das haben die jüngsten Äußerungen von Papst Franziskus noch einmal bestätigt. Was also ein Bischof weiß, muss er gemäß den Gesetzen seines Landes an die jeweiligen Strafverfolgungsbehörden melden. Insofern ist ja schon garantiert, dass es eine externe, komplett außerhalb der Kirche liegende Instanz gibt, die diesen Fällen nachgeht.
Eines der großen taktischen Probleme in der Strafverfolgung ist, dass es innerhalb der Kirche viel zu wenig Kirchenstrafrechtler gibt. Wenn man Prozesse gegen straffällig gewordene Priester so durchführen will, dass sie auch rechtsgültig sind, dann braucht man eben gut ausgebildete Leute. Die gibt es, wenn wir auf die ganze Welt schauen, viel zu wenige. Insofern braucht es eine zentrale Behörde, die diese Fälle auch tatsächlich gut behandeln kann. Ich glaube, dass es in Zukunft auf jeden Fall eine größere Dezentralisierung dieser Kompetenzen braucht, weil es einfach nicht angeht, dass sich Bischöfe aus der Verantwortung stehlen können und sagen: Wir haben nicht die Leute, die gut dafür ausgebildet sind, also schicken wir die Fälle nach Rom.
Wir brauchen – und daran arbeitet unsere Kommission – eine klarere, stringentere und transparentere Prozessordnung. Das kann, wenn es erst einmal eingeführt ist, von der Glaubenskongregation genauso gut wie von einer anderen Behörde gemacht werden. Wir handeln eben in einem internationalen Kontext. Wir sprechen ja von einer Institution, also der katholischen Kirche, die in 200 Ländern vertreten ist. Da müssen wir genau schauen, wie wir im Einklang mit der jeweiligen lokalen Rechtssprechung handeln können; wie etwa die Persönlichkeitsrechte der Opfer und der Beschuldigten gewahrt werden können; wie Dokumente weitergegeben werden können, ohne dass diese Persönlichkeitsrechte berührt werden. Wie können Personen schnell genug informiert werden? Wie können Vernehmungsverfahren entsprechend diskret aber gleichzeitig klar genug aufgesetzt werden? Das sind Fragen, denen wir uns jetzt stellen.
Ich glaube, dass es in den nächsten Jahren zu vielen Veränderungen kommen wird und ich schließe nicht aus, dass wir in einigen Jahren auch eine viel größere Beteiligung von externen Experten und Institutionen haben, um darauf zu schauen. Das passiert momentan schon in Australien, wo solch eine externe, allerdings auch von der katholischen Kirche eingesetzte Kommission auf die Fälle schaut.
domradio.de: Und Fittipaldis Buch kann jetzt vielleicht ein Anstoß sein, das alles ein bisschen schneller in Bewegung zu setzen?
Zollner: Das kann es sein. Ich hoffe, dass es diesen Effekt haben wird. Allerdings werden die Dinge, die nicht genau recherchiert sind oder die -– aus welchem Grund auch immer – nicht richtig dargestellt werden, den Leuten, die sich den Bemühungen um Transparenz und um Null-Toleranz entgegenstellen, natürlich Munition geben um zu sagen: "Seht her, hier werden falsche Dinge behauptet, also ist das alles nicht so ernst zu nehmen!" Leider kann ein solches Buch einen solchen Effekt haben.
Das Gespräch führte Hilde Regeniter