Pfarrer Regamy Thillainathan (Leiter der Diözesanstelle für Berufungspastoral im Erzbistum Köln): Ich finde, es ist eine sehr ehrliche und persönliche Note unseres Heiligen Vaters. Es ist erstaunlich, dass er sich ganz viel auf die Poesie zurückzieht, dass er nicht mit theologischen Fachausdrücken daherkommt, sondern versucht, ausgehend von der poetischen Sprache, die Situation und auch die Ungerechtigkeit, die vor Ort geschieht, die Unterdrückung, die viele Menschen aufgrund ihrer Ethnie erfahren müssen, anzuprangern und auch uns aufzurufen: "Empört euch!" Das hat mich ziemlich beeindruckt und bewegt.
DOMRADIO.DE: Ein großes Thema ist ja der Priestermangel in der Region. Der Papst setzt eher auf die Ausbildung des Klerus vor Ort. Die Weihe von verheirateten Männern erwähnte er zum Beispiel gar nicht. Wie beurteilen Sie seine Vorschläge zum Priestermangel?
Thillainathan: Es ist nicht nur so, dass er sich auf die Priester bezieht. Das kommt mir jetzt in der ganzen Diskussion zu kurz. Drei Kapitel beziehen sich erst einmal auf die Situation der Indigenen vor Ort. Und ein Satz hat mich dabei doch wirklich nachdenklich gemacht und gestern auch noch einmal sehr bewegt. Da schreibt er an einer Stelle: "Die Kolonialisierung findet kein Ende, sondern verändert, tarnt und verbirgt sich an vielen Orten, verliert jedoch nicht ihre Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Leben der Armen und der Zerbrechlichkeit der Umwelt". Und das ist mir eigentlich in der ganzen Diskussion zu kurz gekommen.
Die ganze Rezeption, die hier geschieht, bezieht sich immer nur noch auf die "typisch deutschen" Themen. Natürlich bewegen mich auch die Fragen "wie verhält sich der Heilige Vater zum Thema Zölibat" oder die Rolle der Frauen in der katholischen Kirche. Aber ich finde es dem Schreiben gegenüber und auch den Leidensgeschichten und Nöten der Menschen in Amazonien gegenüber unfair, dieses Dokument für unsere eigenen Ziele zu missbrauchen und nur noch darauf zu reduzieren.
Es ist ein kleiner Punkt, auf den der Heilige Vater eingeht. Aber das, was eigentlich unerhört ist, ist, dass wir seine Einladung, uns zu empören, was da vor Ort geschieht, was mit unserer Welt geschieht, was mit unserer Umwelt geschieht, was mit unseren Schwestern und Brüdern geschieht, gar nicht erst wahrgenommen wird. Und da würde ich mir mehr von uns, da schließe ich mich selber mit ein, wünschen, dass wir uns von diesen Nöten der anderen auch am anderen Ende der Welt anrühren lassen. Sonst machen wir uns als Kirche auch unglaubwürdig.
DOMRADIO.DE: Können Sie die Enttäuschung denn trotzdem so ein bisschen nachvollziehen?
Thillainathan: Ich kann die Enttäuschung nachvollziehen, weil im Vorfeld von einigen Bischöfen auch hier in Deutschland große Erwartungen geweckt worden sind. Und wenn große Erwartungen vorhanden sind und diese Erwartungen dann nicht eintreffen - dass da eine Enttäuschung zustande kommt, kann ich vollkommen verstehen. Jetzt gilt es aber erst einmal, dieses Papier richtig zu lesen und das Papier auch dahingehend zu verstehen, dass der Heilige Vater sich erst einmal darum bemüht, die Situation in den Amazonasgegenden wahrzunehmen, die Ungerechtigkeit aufzuzählen und uns als Kirche, als Weltkirche zum Handeln zu bewegen.
Und da bedarf es auch einer richtigen Lektüre und nicht nur die PDF-Datei auf bestimmte Schlagwörter hin zu durchsuchen und den Rest des Dokuments als wertlos abzutun. Das kommt leider häufig momentan rüber, so empfinde ich es persönlich. Und das finde ich einfach gegenüber der ganzen Situation unfair.
DOMRADIO.DE: Sie sind für die Menschen im Erzbistum Köln zuständig, die überlegen, einen seelsorglichen Beruf zu ergreifen. Was nehmen Sie denn aus dem Papstschreiben für Ihre Arbeit mit?
Thillainathan: Was mich fasziniert, ist, dass der Heilige Vater die Inkulturation als eine wichtige Grundlage jeglichen Handelns voraussetzt und auch einfordert. Und dahingehend müssen wir unsere Ausbildung überprüfen, ob die Inkulturation in die jetzige Zeit, in die jetzige Sprache, in die jetzige Situation und gesellschaftliche Herausforderung auch tatsächlich geschieht.
Das Evangelium muss immer wieder neu dahingehend inkulturiert werden, dass die Frohe Botschaft Jesu Christi nicht geschmälert wird, dass man es dann nicht irgendwie so zurechtschneidet, wie man es gerne hätte, aber dass die Botschaft klar ist, aber dass sie an den Empfänger, die Empfängerin angepasst ist, an die Nöte der jeweiligen Zeit. Und da, glaube ich, müssen wir, die für die Ausbildung zuständig sind, schauen, ob die Inkulturation auch geschehen ist. Ist sie tatsächlich auch in der heutigen Zeit angekommen? Und wo können wir unseren jungen Menschen dabei helfen, das Evangelium immer wieder in die eigene Zeit und die eigene Lebenswirklichkeit hinein zu übersetzen?
Das Interview führte Michelle Olion.