"Pange, lingua, gloriosi corporis mysterium" – Preise, Zunge, das Geheimnis dieses Leibs voll Herrlichkeit. Die 29 Mädchen und Knaben stimmen aus dem Off einen eucharistischen Hymnus an, wie er sonst etwa bei der Fronleichnamsprozession gesungen wird. Sie sind in einem fast totalen Dunkel hinter einer schwarzen Wand positioniert. Nur spärlich erleuchtete Notenpulte abseits der Bühne lassen erkennen, dass sie zu einem kleinen Chor – wohlgemerkt auf vorgeschriebenem Abstand – zusammenstehen und von Chorleiter Oliver Sperling hochkonzentriert das Dirigat abnehmen. Dieser wiederum ist nur über einen Monitor mit Gabriel Feltz, dem Dirigenten des Gürzenich-Orchesters verbunden, der diesmal ebenfalls seitlich zur Bühne seinen riesigen sinfonischen Klangkörper aufgestellt hat und bei dem alle Fäden – die des Orchesters, des Kinderchores und des Erwachsenenchores – zusammenlaufen. Und das ohne unmittelbaren Sichtkontakt zueinander.
Bei ihrem Einsatz, der zwar kurz ist, es aber intonationstechnisch in sich hat, tun die Zehn- bis 13-Jährigen eigentlich genau das, was üblicherweise ihr Auftrag als Sängerinnen und Sänger der Domchöre ist: nämlich geistliche Musik zu machen. Nur dass es diesmal nicht der Kölner Dom ist, den sie mit einem Choral füllen, sondern das weite Areal der Oper im Kölner Staatenhaus.
Immer schauen, was gerade probentechnisch geht
Ursprünglich waren neun Aufführungen der Oper "Die tote Stadt" von Erich Wolfgang Korngold mit zwei Besetzungen bis in den Januar hinein geplant. Die Probenarbeit hatte Sperling bereits nach den Sommerferien aufgenommen und den Probenplan so ausgearbeitet, dass alle Corona-Schutzvorschriften akribisch genau beachtet wurden. Und trotzdem geschieht dann das seit Wochen Befürchtete. Die für den 4. Dezember angesetzte Premiere kann nicht mit Publikum stattfinden; der Teil-Lockdown, zunächst bis Ende November gedacht, wird bis vor Weihnachten ausgedehnt. Und nun auch noch weit über die Jahreswende hinaus bis zum 10. Januar. "Unter diesen Umständen sind wir froh und dankbar, überhaupt singen zu können", fasst Sperling das Wechselbad der Gefühle zusammen, dem er sich seit Monaten – und das nicht nur beim Thema Oper – ausgesetzt sieht.
Denn pausenlos heißt es für alle Chorleiter der Dommusik, immer aktuell zu schauen, was gerade probentechnisch geht, welche Abstandsregeln neu gelten und wie viele Chorsänger in einem Raum überhaupt zusammentreffen dürfen. Fast alle Konzerte und größeren Musikprojekte sind in diesem Jahr bislang ausgefallen. "Da ist ein einzelner Opernauftritt dann ein absolutes Highlight", findet Sperling. "Das heißt aber auch, dass die Kinder da erst recht auf den Punkt sein müssen. Denn eine zweite Chance bei einer Live-Übertragung gibt es nicht."
Fehlgeleitetes Wunschdenken bedingen Eifersucht und Hass
Es ist nämlich ein besonderes Jubiläum, an dem die Oper – trotz erneuten Lockdowns für alle Theater, Opern- und Konzertsäle – unbedingt festhalten wollte, daher kreativ gedacht und kurzfristig umdisponiert hat. Nun lädt sie dazu ein, die Premiere am 4. Dezember im Livestream zu verfolgen. Und somit kann auf den Tag genau 100 Jahre nach der Uraufführung im Kölner Opernhaus am Habsburgerring die Neuproduktion von Korngolds Oper "Die tote Stadt", eines der faszinierendsten Bühnenwerke des vergangenen Jahrhunderts und diesmal inszeniert von Tatjana Gürbaca, im Staatenhaus dennoch stattfinden.
Die Handlung spielt in Brügge, das als Synonym für eine Stadt steht, die von der Erinnerung an die Vergangenheit lebt. Der Witwer Paul kultiviert in einem "Tempel der Erinnerungen" das Gedenken an seine jung verstorbene Frau Marie. Durch die Begegnung mit der Tänzerin Marietta – die Marie äußerlich zwar verblüffend gleicht, wesensmäßig jedoch ganz und gar nicht – gerät dieses nekrophile Arrangement in eine Schieflage. Realität und Vision sind für Paul nicht mehr zu trennen. Fehlgeleitete Projektion und Wunschdenken bedingen Eifersucht und Hass. Schließlich steigert sich die emotional aufgeheizte Auseinandersetzung zwischen ihm und der Tänzerin bis ins mörderische Extrem. Am Ende – so die läuternde, an psychoanalytische Erkenntnisse der Entstehungszeit angelehnte Auflösung des Geschehens – steht jedoch nicht der Tod, sondern das Bekenntnis zum Leben.
Ab der 1970er Jahre Repertoirestück des Opernbetriebs
Die Korngold-Oper – eine Kombination aus reicher, teils süßlicher Melodik und farbiger Instrumentation, wie sie für die Nachromantik an der Grenze zur Moderne typisch ist – gilt in der Musikgeschichte als verkannter Publikumshit. Als der Zeitgenosse Puccini sie anlässlich eines Wien-Aufenthaltes hörte, zeigte er sich höchst beeindruckt. Das Libretto folgt den Thesen der damals modernen Psychoanalyse und benutzt gewissermaßen die Illusion der Bühne, um die Auflösung einer pathologischen Fixierung darzustellen. Vision und Realität sind gegeneinander abgehoben. Korngolds Kompositionsstil verrät hier jene Begabung, die ihn später zum erfolgreichsten Filmmusikkomponisten machen sollte.
Doch weder die gekonnte Musikdramaturgie noch die Kantabilität der Rollen – eine der schönsten Melodien ist das schwärmerisch-entrückte Duett von Paul und Marietta – vermochte das Werk vor dem Vergessen zu bewahren. Erst allmähliche Versuche der Reanimierung führten in den 1970er Jahren zum gewünschten Erfolg und weckten neues Interesse beim Publikum, demzufolge das Werk wieder als dauerhaftes Repertoirestück im Opernbetrieb etabliert werden konnte. Da ist es mehr als nur erfreulich, dass ihm in Zeiten, in denen Kultur gerade nicht face to face zu erleben ist, nun noch einmal ein ganz besonderer Stellenwert zukommt und es seinen 100. Geburtstag in Köln dank der Initiative und Beharrlichkeit der hier Opernschaffenden – allen pandemischen Widrigkeiten zum Trotz – feiern darf.