Herr Sperling, 1996 hat Domkapellmeister Eberhard Metternich Ihnen die Leitung des Mädchenchores am Kölner Dom übertragen. Berücksichtigt man auch den allerjüngsten Nachwuchs im B-Chor, zählt der Chor aktuell etwa 200 Mädchen zwischen neun und 20 Jahren. Sie haben einmal gesagt: Chorarbeit ist vor allem Beziehungsarbeit. Können Sie es - angesichts dieser Übermacht - eigentlich gut mit dem weiblichen Geschlecht?
Sperling: Sagen wir mal so: Ich kann jedenfalls nicht schlecht mit Frauen. Mag sein, weil ich auch zu Hause nur von „Frauen“ umgeben bin. Aber mal ernst: Die 17 Jahre bei den Essener Domsingknaben, wo ausschließlich ohne Frauen musiziert wurde, waren einerseits schon recht prägend. Andererseits aber habe ich schon während des Studiums immer mit gemischten Ensembles, zum Beispiel Jugendchören, gearbeitet. Und auch beim Einstieg in die Kölner Dommusik war ich ja zunächst einmal mit beiden Chören – dem Knabenchor und dem Mädchenchor – befasst, so dass ich glaube, von beiden zu wissen, wie die ticken. Natürlich ist das mit Mädchen alleine nochmals etwas anderes: musikalisch, emotional und auch gruppendynamisch. In den einzelnen Altersphasen, die unterschiedlich reizvoll sind, weil natürlich im Alter von zehn Jahren ganz andere Herausforderungen da sind als mit 18, gibt es – im Unterscheid zu den Knaben – ein relativ gleich bleibendes Stimmenpotenzial, mit dem sich verlässlich arbeiten lässt. Und das ist die spezifische Stärke eines Mädchenchores. Klar, dass es einer feinen Wahrnehmung und besonderen Sensibilität im Umgang mit so vielen Mädchen bedarf. Aber wir können jederzeit offen miteinander sprechen. Das ist viel wert. Wir sind ja nicht nur irgendeine Gruppe, die Musik miteinander macht, sondern verstehen uns als eine christlich orientierte Gemeinschaft. Das ist noch einmal eine ganz andere Qualität. Und selbstverständlich entwickelt man gerade auch über die pädagogische Arbeit, die immer wieder auch sehr intensive Phasen hat, eine besondere Beziehung zu dem eigenen Chor und seinen einzelnen Mitgliedern. Das bedeutet im Ernstfall auch, füreinander da zu sein, wenn es mal nicht so gut läuft. In diesem Sinne ist der Chor für viele Mädchen auch eine Art Lebensschule, in der sie gemeinsame Werte kennenlernen und Sinnstiftendes miteinander teilen.
Sie sind also Teamplayer aus Leidenschaft?
Sperling: Ganz sicher. Das mag daran liegen, dass ich bei den Essener Domsingknaben selbst in einer solchen Gemeinschaft groß geworden bin. Ich spiele zwar auch sehr gerne Orgel oder Klavier. Aber das Instrument stand für mich eher hinter dem Chorgesang und diente beim Eigentlichen nur als Begleitung. Ich hatte nie vor, Einzelgänger an der Orgel zu sein. Vielmehr war es immer mein ausdrücklicher Wunsch, Musik mit anderen - eben am liebsten im Chor - zu machen. Besonders wichtig ist für mich bei einer solchen Beziehungsarbeit – denn das ist sie in der Tat -, dass man bereit ist, von sich selbst etwas preiszugeben. Und das gilt für beide Seiten. Man sollte sich gegenseitig nichts vorspielen, sondern authentisch sein. Ich kann nur hoffen, dass meine Sängerinnen spüren, dass ich mich jedenfalls total mit ihnen identifiziere. Vielleicht liegt ja gerade darin auch das Geheimnis unseres gemeinsamen Erfolgs.
Dann war die Übernahme des Mädchenchores so etwas wie ein Glücksfall für Sie?
Sperling: Jedenfalls ist aus dieser Aufgabe eine große Liebe geworden. Ich hätte nie für möglich gehalten, dass ich mich mit diesem Chor so entwickeln würde. Zu Anfang kannte ich nur einen Bruchteil der Chorliteratur für Mädchen- bzw. Frauenstimmen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich nämlich fast ausschließlich mit Stücken für gemischten Chor bzw. Knabenchor beschäftigt.
Das heißt, Sie sind erst allmählich in diese Aufgabe hineingewachsen?
Sperling: Absolut. Zunächst hat Eberhard Metternich als Gründer des Mädchenchores die geeignete Literatur ausgesucht. Auf dieser Basis aufbauend konnte ich dann nach und nach eigene Entdeckungen machen und mich spezialisieren. Dafür habe ich Kataloge gesichtet und die Programme anderer Mädchenchöre studiert – immer mit Seitenblick auf Kollegen, die mir da schon etwas voraus waren. Denn auch im Studium wurde so gut wie nicht thematisiert, dass es neben den traditionellen Knaben- und Erwachsenenchören auch Frauenchöre gibt. Chorliteratur für Frauenstimmen alleine tauchte substanziell einfach nicht auf. Vielleicht liegt das auch daran, dass sich lange das Vorurteil gehalten hat, ein Mädchenchor sei – im Sinne eines Mangels - gar kein vollwertiger Chor. Jemanden mit einer solchen Überzeugung würde ich heute gerne eines Besseren belehren.
Hat sich denn an der Literaturlage mittlerweile etwas geändert?
Sperling: Zum Glück. Heute gibt es ein ganz anderes Bewusstsein für Chöre, die ausschließlich über die Stimmlagen Sopran und Alt verfügen. Mittlerweile existiert außerdem eine ganze Reihe guter Mädchenchöre. Und die wollen – wie die Knaben- oder Erwachsenenchöre – ebenfalls gute Musik singen. Zu den ersten Gründungen in den 80er und 90er Jahren gehörten die Mädchen-Kathedralchöre in den Bistümern Würzburg, Limburg und Hildesheim. 1989 kam dann auch Köln dazu. Damals zählten wir aber auch noch eher zu einer Minderheit. Was die Literaturlage angeht, hatte ich lange Zeit noch viele offene Wünsche. Für jede Liturgie und jedes Kirchenfest die passende Chorliteratur im Archiv zu haben, das wäre mein Traum. Denn Chormusik für Mädchen sollte keine Verlegenheitslösung sein, indem man beispielsweise bestehende Motetten nur transkribiert, das heißt, für ihre Stimmhöhe passend macht, weil sie ursprünglich eigentlich für gemischte Chöre gedacht sind. Auch für einen mehrstimmigen Mädchenchor sollte es eine genügende Auswahl an Motetten und Messen, vielleicht sogar ein Requiem geben. An einer Erweiterung unseres Repertoires - vor allem mit einer Vielzahl an zeitgenössischen Werken – arbeite ich kontinuierlich. Denn Chormusik von Komponisten wie Arvo Pärt oder Knut Nystedt macht schließlich unser Profil aus. Dafür nehme ich auch immer wieder Kontakt zu zeitgenössischen Komponisten auf und gebe etwas in Auftrag. Aber zur Not schreibe ich ein Stück, das es bislang ausschließlich für Mädchenstimmen so noch nicht gibt, auch selbst. Ich würde mich freuen, wenn sich die von mir über Jahre betriebene Lobbyarbeit für Mädchen-(Kathedral-)Chöre irgendwann mit einem umfangreichen Notenfundus und vielseitigen Kompositionen für Mädchenstimmen auszahlt.
Apropos selbst schreiben: Im Jahr 2000 haben Sie als vielleicht liturgisch auffälligstes Werk eine Johannes-Passion komponiert, die im Kölner Dom schon mehrmals am Karfreitag aufgeführt wurde. „Pueri Cantores“ hat Sie 2002 außerdem mit einem „Gloria de Noel“ für einen Festivalauftritt in Lyon beauftragt und 2010 mit der „Missa de angelis“ für einen Kongress in Rom. Nicht zu vergessen der Domjubiläums-Ohrwurm von 1998 „Wir haben seinen Stern gesehen…“, der nun auch Eingang ins neu aufgelegte Gotteslob gefunden hat.
Sperling: Es muss immer einen Anlass oder Aufhänger dafür geben, selbst zur Feder zu greifen. Meistens ist es ein Bibeltext, ein Psalm, der mich dazu inspiriert, weil es hierzu bislang noch keine Vertonung gibt, eine solche für die Liturgie aber gebraucht wird. Außerdem habe ich durchaus eine Vorliebe für Latein. Daher beschäftige ich mich auch viel mit Gregorianik. Es fehlt aber auch an Gebrauchsliteratur für das gemeinsame Musizieren von gemischten Mädchenchören und gemischten Knabenchören auf hohem Niveau. Deshalb habe ich auch den Schlusschor aus der Bachschen Johannes-Passion, der ja im Original alle vier klassischen Stimmlagen vorsieht, für vier Mädchenstimmen bearbeitet. Traditionell wird er immer am Ende jeder Karfreitagsliturgie im Dom gesungen – egal welcher Chor turnusgemäß gerade Dienst hat. Mir war wichtig, dass die Mädchen diese Tradition nicht aufkündigen müssen, Bach aber trotzdem nach Bach klingt.
Wer hat in Ihnen diese spürbare Begeisterung für liturgische Musik angelegt?
Sperling: Wie gesagt, ich bin in der katholischen Liturgie groß geworden. Das war für mich eine Form der Sozialisation, bei der mich der Essener Domkapellmeister Georg Sump sicher sehr geprägt hat. Ohne ihn stünde ich heute vermutlich auch nicht hier. Ich habe das große Glück, einen sehr vielseitigen Beruf zu haben - den tollsten der Welt, würde ich sogar behaupten -, weil ich darin meine Liebe zur Musik ausleben kann. Außerdem hatte ich schon immer Spaß an Literatur. Dazu gehört auch, dass ich gerne in der Bibel lese und mich mit der Aussagekraft und Bedeutung biblischer Texte beschäftige. Für einzelne Verse dann auch die passende Musik zu haben oder gar selbst zu schreiben, erlebe ich als sehr erfüllend. Denn erst wenn Text und Musik im Einklang miteinander sind, vermittelt sich ein Sinn. Die Parameter sind die Töne, der Rhythmus, der Klang…Wenn man mit einem Chor dann aber an den Punkt kommt, dass schließlich alles zusammenpasst, dann will man es immer so haben. Ein Bild, das gemalt ist, bleibt ein fertiges Produkt und man kann es endlos lange betrachten. An einem musikalischen Kunstwerk hingegen muss man permanent arbeiten. Denn selbst wenn es einmal für einen Moment ein perfektes Ergebnis gab, ist es eine Sekunde später schon wieder Vergangenheit. Wenn wir dafür aber keine Empfindung haben, wie es sich unserem Anspruch nach anhören soll - und das in nahezu vollkommener Weise ja auch oft genug gelingt – wie sollen dann erst andere hören, was wirklich gute Musik ist?
Sie haben immer großen Wert darauf gelegt, dass sich Ihr Chor durch Vielseitigkeit auszeichnet und sich die Sängerinnen vor allem bei Wettbewerben, aber auch in der Oper oder bei Konzerten ausprobieren.
Sperling: In der Summe kommen im Verlauf eines Jahres viele unterschiedliche Elemente zusammen, die ganz notwendig für die Motivation des Chores sind. Mit Profis – seien es Sänger oder Dirigenten – gemeinsam auf einer Bühne zu stehen – in der Philharmonie oder derzeit im Staatenhaus für Opernproduktionen - ist für die Mädchen ungemein anregend und fördert zweifelsohne ihre Persönlichkeitsentwicklung. Denn bei solchen gemeinsamen Projekten können sie sehr viel Neues erfahren und immer wieder Tipps von außen bekommen, die sie voranbringen. Und das ist äußerst spannend: Ob sie mit Helmut Rilling, der Ikone der Bach-Musik, die Matthäus-Passion aufführen, mit dem renommierten Opernregisseur Michael Hampe – wie zuletzt bei „La Bohéme“ - die mimischen Szenen durchsprechen oder mit dem für sie bis dato völlig unbekannten neuen Kölner Generalmusikdirektor Francois-Xavier Roth – wie im Oktober beim großen Domkonzert – Poulenc erarbeiten – durch eine solche Schule zu gehen hat einen hohen Stellenwert und ist eine ganz einzigartige Erfahrung, die viele von ihnen vielleicht erst rückblickend in ihrer Bedeutung wertschätzen können.
Intensive Zeiten miteinander haben Sie immer auch bei den großen Auslandsreisen…
Sperling: Ich bin mir mit Eberhard Metternich darin einig, dass jedes Chormitglied in seiner aktiven Laufbahn wenigstens einmal in Rom und zusätzlich am besten auch in Israel gewesen sein und damit die Orte der Wurzeln unseres Glaubens kennengelernt haben sollte. Das hat auch viel mit Lernerfahrungen – vor allem in der großen Gemeinschaft der Chorfamilie – zu tun. Gleichzeitig ist mir wichtig, neben dem liturgischen Auftrag, den wir am Dom haben, aber auch den als Kulturbotschafter unserer Stadt ernst zu nehmen, eine kulturelle Ausstrahlung zu pflegen, aber ganz klar auch unsere Werte zu vermitteln, die für einen Kathedralchor selbstverständlich sind. Festivals, Opern, das Musizieren mit dem Gürzenich-Orchester Köln oder dem WDR-Rundfunkorchester – wir können auf vielen, sehr unterschiedlichen Hochzeiten tanzen und werden dafür ja auch immer häufiger angefragt. Beim Katholikentag in Leipzig beispielsweise bringen wir im Mai gemeinsam mit den Dresdener Kapellknaben das Oratorium „Ecce homo“ von Colin Mawby zur Uraufführung, das der englische Komponist eigens zu diesem Anlass komponiert hat. Dass wir da mitmachen dürfen, ist schon auch eine Ehre für den Mädchenchor und verspricht eine neue tolle Herausforderung.
Nach der Reise in den Osten Deutschlands wird es dann im Herbst auch wieder eine „Weltreise“ geben…
Sperling: Mit Stationen in Shanghai und Peking steht im Oktober eine 14tägige China-Reise an, zu der uns der chinesische Chorverband eingeladen hat. Schon jetzt ist klar, dass die Gratwanderung zwischen unserem Selbstverständnis als Katholiken und dem Kontakt mit einer uns unbekannten Gesellschaftsordnung eine besondere Mission ist, die Fingerspitzengefühl erfordert. Darauf werden die Mädchen auch vorbereitet. Wir wollen zunächst niemanden missionieren, indem wir neben Pop-Songs und chinesischen Volksliedern als Schwerpunkt vor allem geistliche Musik mit im Gepäck haben und diese in voraussichtlich acht oder neun verschiedenen Konzertsälen präsentieren werden. Aber wir wollen auch zu dem stehen, was unsere Identität ausmacht, und nichts davon verleugnen.
Gibt es angesichts dieser vielen intensiven Erlebnisse, einschließlich der Konzertreisen, überhaupt noch offene Wünsche?
Sperling: Ganz praktisch gesehen: Ja. Einen Probensaal mit optimalen Bedingungen, wie er hoffentlich bald in Lindenthal mit dem geplanten Neubau für die nächsten Jahrzehnte zur Verfügung steht. Und dann meinen selbst gewählten Anspruch, eines Tages ein Chorarchiv mit einer vollständigen Sonntags- und Feiertagsliturgie übergeben zu können: am liebsten für alle Gelegenheiten das Passende. Eine Motette, die also dann etwa acht Minuten dauert und sich gut in ein Kapitelsamt fügt. Andererseits bekommt ein Domprediger auch kein zeitliches Limit. Mit anderen Worten: Natürlich darf man der Gemeinde auch einmal etwas zutrauen, indem sie sich im längeren Zuhören übt und man sie mit der Musik auf einen Weg nimmt. Es wäre eine falsch verstandene Participatio actuosa, wenn die Gemeinde immer nur dann „richtig“ Gottesdienst feiert, wenn nur sie selbst singt - und der Chor eben nicht.
Gibt es darüber hinaus noch Anreize, Herausforderungen für Sie?
Sperling: Ich bin kein Typ für höher, schneller, weiter. Es geht also nicht um Quantität, sondern immer um Qualität. Das heißt, ich brauche immer neue gute Musik. Dabei kann eine A-cappella-Motette genauso bedeutsam sein wie ein großes Oratorium. Das, was ich mit dem Chor erarbeite, soll so gut wie möglich sein. An diesem Ziel arbeite ich kontinuierlich. Gerade bei Wettbewerbsteilnahmen ist die Motivation des Chores riesig. So eine Teilnahme lohnt sich allein schon wegen der Vorbereitungszeit, die zu keinem Moment für uns alle intensiver ist als gerade unmittelbar vor einem solchen Projekt. Im Vorfeld eines Wettbewerbs arbeiten wir an den sieben, acht Stücken, die wir dann präsentieren, noch einmal sehr viel konzentrierter als im Alltag. Man muss schon „Effizienzfetischist“ sein, damit sich nachher das Ergebnis hören lassen kann und alle Beteiligten trotzdem großen Spaß daran haben. Denn dass die Kinder selbst Freude an dem haben, was sie da machen, ist eigentlich mein größter Wunsch.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.