KNA: Welche Impulse hat die Vollversammlung des ÖRK gesetzt?
Erzpriester Radu Constantin Miron (Griechisch-orthodoxer Erzpriester und Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der Christlichen Kirchen in Deutschland): Es ist noch zu früh für eine Gesamtbetrachtung der 11. Vollversammlung. Das wichtigste Ergebnis ist vielleicht die Tatsache, dass sie überhaupt stattfinden konnte. Das ist schon ein großer Wert in sich. Denn es mussten natürlich die personellen Weichen für die nächsten Jahre gestellt werden, wobei sämtliche Wahlen nach schweizerischem Recht in persona stattfinden müssen, das konnte also nicht digital organisiert werden, und das hat ja etwa auch zu der Verzögerung bei der Berufung des neuen Generalsekretärs geführt.
Für uns als Menschen der deutschen Ökumene und für mich als orthodoxen Christen waren natürlich die Erklärungen zu Israel/Palästina und zur Ukraine wichtig.
KNA: Bei der Erklärung zu Israel/Palästina war vor allem die Verwendung des "Apartheid"-Begriffs umstritten. Ist das Ergebnis jetzt mehr als einen Formelkompromiss?
Miron: Ich glaube, es ist gelungen, den Teilnehmern aus dem nahöstlichen Raum und dem afrikanischen Raum die Sensibilität, mit der dieses Thema in Deutschland behandelt wird, ganz effektiv nahezubringen. Und das ist ja auch ein Ergebnis, wenn es gelingt, die Wahrnehmung des anderen zu erkennen. Umgekehrt glaube ich auch, dass viele Teilnehmer aus Deutschland und aus anderen Ländern die Sensibilität des scheidenden Generalsekretärs zu schätzen wussten, der gesagt hat, wir müssen zu unseren Mitgliedskirchen im Nahen Osten stehen und müssen auf ihr Urteil und ihre Wahrnehmung achten. Ich glaube, das war ein gegenseitiger Lernprozess. Inwieweit die jetzt gefundene Formulierung die beste war, sei dahingestellt.
KNA: Das andere wichtige Thema war der Krieg in der Ukraine. In Karlsruhe waren auch Vertreter aus der Ukraine eingeladen. Ist es nach Ihrer Kenntnis zu informellen Begegnungen von ihnen mit der russischen Delegation gekommen?
Miron: Nein, es hat keinerlei solche Begegnungen gegeben, weil eine Abschottungspolitik herrschte. Für mich als jemand, der schon etwas älter ist, weckt das Erinnerungen an die Zeit vor 1990, als die damals sowjetischen Delegierten bei derartigen Veranstaltungen auch immer nur als Gruppe auftraten und nicht gesprächsbereit waren. Und natürlich auch ein sehr floskelhaftes Verhalten zeigten. Die beiden jungen Menschen aus der Ukraine, die im Plenum gesprochen haben, haben, glaube ich, alle beeindruckt. Sie haben in einfachen Worten zum Ausdruck gebracht, worum es geht, nämlich die Dinge beim Namen zu nennen. Und sie haben es geschafft, eine klare Aussage der russischen Delegation zu erbitten - die sie freilich nicht erhalten haben.
KNA: Das verabschiedete Dokument ist in einigen Punkten gegenüber dem Entwurf verschärft worden. Ist das in ihrer Sicht zufriedenstellend?
Miron: Wie bei all diesen Dokumenten ist die Debatte darüber das Entscheidende. Ich hänge nicht so stark an den einzelnen Formulierungen. Wichtig war die Tatsache, dass sich die Delegation der Russischen Orthodoxen Kirche diesen Fragen stellen musste. Man begegnete ihnen ja nicht feindselig, sondern durchaus gesprächsbereit und hat ihre Teilnahme ja auch verteidigt. Das war der eigentliche Gewinn der Vollversammlung.
KNA: Die Vollversammlung hat auch eine "Erklärung zur Einheit" beschlossen. Welche neuen Akzente setzt diese?
Miron: Bei allen Vollversammlungen des ÖRK hat es Erklärungen zu diesem Thema gegeben. 2013 in Busan ist ein neues ökumenisches Leitwort entstanden: Der "Pilgerweg für Gerechtigkeit und Frieden.
Für Karlsruhe sehe ich ein solches Wort noch nicht - es ist vielleicht aber auch noch zu früh, weil die Rezeption ja gerade erst anfängt. Vielleicht müssen wir lernen, unsere Sprache neu zu überdenken und eine gewisse Sprachlosigkeit überwinden, nicht nur im Sinne des Schweigens, sondern auch in dem Sinne, dass wir unser Vokabular schärfen müssen. Und ich meine das nicht in einem abgrenzenden Sinne, als "Ökumene der Profile", sondern ich meine Ökumene der Exaktheit, Ökumene der Präzision, das ist für mich die Botschaft von Karlsruhe.
KNA: Die ACK hat 2021/22 zum Jahr der Ökumene erklärt, wegen des Ökumenischen Kirchentags und der ÖRK-Vollversammlung. Haben sich die Erwartungen, die sie damit verbunden haben, erfüllt?
Miron: Das ist eine spannende Frage. Wir haben noch nicht bilanziert; nächste Woche werden wir die Mitgliederversammlung der ACK in Hamburg haben und dann auch einen Bericht einer eigenen Abgesandten zur Vollversammlung in Karlsruhe hören. Wir haben, eben weil wir ökumenisch sind, eine katholische Theologin gebeten, sie für die ACK zu beobachten. Soweit ich es heute sagen kann, haben sich die Erwartungen des ökumenischen Jahres deswegen erfüllt, weil die multilaterale Ökumene in diesem Doppeljahr doch sehr aktiv und sehr erkennbar gefördert wurde. Ich will jetzt nicht das Ende der bilateralen Ökumene proklamieren, aber die Kirche und die Gesellschaft müssen erkennen, dass Ökumene nur im Mosaik der Vielfalt denkbar und erlebbar ist - auch in einem Land, das als so monolithisch galt wie Deutschland.
KNA: Das mediale Interesse an der Vollversammlung war eher gering. Woran hat das aus Ihrer Sicht gelegen?
Miron: In der orthodoxen Kirche haben wir in unseren Kirchen als Wappentier den Doppeladler. Also ein Adler mit zwei Köpfen. Der eine schaut in die eine und der andere in die andere Richtung. Mein Eindruck ist, dass auch in der Vorbereitung der Versammlung in Karlsruhe Genf und die anderen Player sozusagen wie ein Doppeladler agieren mussten und das kann auch mühsam sein. Eine solche Weltversammlung ist natürlich nicht wie ein Kirchentag oder ein Katholikentag, wo es ein eingespieltes Team und eine eingespielte Reihenfolge der Abläufe gibt. Da muss immer das Rad neu erfunden werden, und deswegen war es sicherlich nicht einfach.
Ich kann für das Karlsruher lokale Büro sagen, die haben ganz hervorragende Arbeit geleistet, und wir als deutsche Ökumene sind dem Karlsruher Büro und dem sogenannten Host-Komitee, dem Komitee der gastgebenden Kirchen, für die hiesige Vorbereitung sehr dankbar.
Das Interview führte Norbert Zonker.