DOMRADIO.DE: Eigentlich wollte Lula da Silva bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober wieder für seine Arbeiterpartei antreten. Eine Verurteilung zu zwölf Jahren Gefängnis wegen Bestechlichkeit und Geldwäsche, die der zuständige Bundesrichter angeordnet hat, könnte diesem Plan entgegenstehen. Die Frist, freiwillig die Haft anzutreten, läuft heute um 22 Uhr deutscher Zeit ab. Wandert Lula jetzt also unweigerlich ins Gefängnis oder gibt es doch noch einen Ausweg in letzter Sekunde?
Norbert Bolte (Brasilienreferent beim katholischen Lateinamerikahilfswerk Adveniat): Ich gehe davon aus, dass sich der frühere Präsident Brasiliens Lula beim Ablauf der Frist heute - 17 Uhr Ortszeit, 22 Uhr unserer Zeit - bei der Polizei in Curitiba in Südbrasilien stellen und sich somit seiner Zukunft im Gefängnis übergeben wird.
DOMRADIO.DE: Geldwäsche und Bestechlichkeit - das sind die schweren Vorwürfe gegen Lula. Wie schätzen Sie das ein? Ist Lula zu Recht, also nach einem fairen Prozess verurteilt worden?
Bolte: Nach vielen und ausführlichen Gesprächen gerade auch mit unseren Projektpartnern in Brasilien ist kaum möglich zu sagen, dass es hier mit rechten Dingen zugegangen ist. Zwei Prozesse haben sie gegen Lula geführt, er ist in Berufung gegangen. Im Moment läuft auch noch eine Revision, deren Ausgang er aber im Gefängnis abwarten muss. Nach außen hin sind keine stichhaltigen Beweise geliefert worden für das, was ihm vorgeworfen wird.
Auf einer Pressekonferenz sagte ein beteiligter Staatsanwalt vor einiger Zeit, es gebe zwar keine Beweise, aber er sei der Überzeugung, dass Lula schuldig ist. So gilt wohl das, was mir gestern noch ein brasilianischer Bischof am Telefon sagte: "Dieses Urteil riecht ganz stark nach politischer Kaltstellung, nach politischer Verfolgung."
DOMRADIO.DE: Trotz allem lieben viele Brasilianer Lula noch immer. Liegt das auch daran, dass sie den Eindruck haben, er wird da zu Unrecht in eine Ecke gestellt, in die er nicht gehört?
Bolte: Ganz sicher ist das ein Aspekt. Die Menschen merken, dass hier jemand angeklagt und verurteilt wird für etwas, an dem große Zweifel bestehen und für das es keine Beweise gibt. Hinzu kommt, dass die Brasilianer sehen: Hier wird jemand vorgeführt - gerade auch von den Medien. Und das in einer Weise, die ihre eigene Identität betrifft. Hier wird jemandem ein Stück Würde genommen, indem sich beispielsweise Kameras vor seinem Haus aufbauen, schon bevor die Polizei eintrifft.
Da sind die Brasilianer sehr feinfühlig und solidarisieren sich mit ihrem ehemaligen Präsidenten. Und es kommt noch etwas anderes dazu: Vor allem die ärmere Bevölkerung hat die acht Jahre der Präsidentschaft Lulas als eine Zeit erlebt, in der es ihnen deutlich besser gegangen ist. Erstmals in der Geschichte Brasiliens stand die arme Bevölkerung deutlich stärker im Vordergrund.
DOMRADIO.DE: Von Lula, der selbst aus kleinen Verhältnissen stammt, heißt es oft, er habe mit speziellen Programmen Millionen Brasilianer aus extremer Armut geholt. Entspricht das Ihrer Einschätzung nach der Realität?
Bolte: Das belegen die Zahlen eindeutig. Man spricht von 20 Millionen Brasilianern, die in der Zeit seiner Regierung und auch der seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff aus der Armut herausgezogen worden sind. Aber sie haben nicht nur diese materielle Seite erlebt, sondern sie haben auch erlebt, wie sie plötzlich im Mittelpunkt der Politik und des Regierungspräsidenten Lula standen. Er ist als eine seiner ersten Amtshandlungen mit der Regierungsmannschaft zu den Armen gefahren und hat sich angesehen, wie sie leben. Im Übrigen weiß er das aus seiner eigenen Geschichte, denn er kommt selbst aus sehr armen Verhältnissen. Beides spielt eine Rolle; die materielle Seite, aber auch die ideelle Seite, die Würde.
DOMRADIO.DE: Was wissen Sie von Ihren Partnern von Ort? Stehen die also auf Lulas Seite?
Bolte: Wir als Hilfswerk der katholischen Kirche in Deutschland arbeiten vor allem mit denen in Brasilien, in Lateinamerika zusammen, die sich für Gesellschaftsveränderung einsetzen. Das sind genau diejenigen, die erlebt haben, dass es in Brasilien den Ärmeren am Ende der Amtszeit von Lula deutlich besser ging als am Anfang. Sie hatten mehr Geld in der Tasche, es gab eine bessere Bildungspolitik für sie und vieles andere mehr. Unsere Projektpartner sagen sehr deutlich, dass sie nicht einverstanden sind mit dem Prozess, so wie er gegen Lula gelaufen ist.
DOMRADIO.DE: Und mit Blick auf Adveniats Arbeit in Brasilien: Was wünschen Sie sich, wie die Affäre um Lula ausgeht? Was würde den geringsten Schaden für Land und Leute bedeuten?
Bolte: Die Affäre Lula ist natürlich viel größer als die Person Lula, denn sie betrifft ein ganzes Land. Ein Land, das in den vergangenen zwei bis drei Jahren eine Welle von Hass, Intoleranz und Gewalt erlebt, die es in dem Maß vorher nicht gegeben hat. Da zeigt sich auch, dass im Moment in Brasilien niemand da ist, auch keine Gruppierung, die eine fördernde Kraft hat wie Lula sie einst hatte: die nämlich eines Moderators, der verschiedene gesellschaftliche Schichten und Gruppen zusammen bringen konnte und dabei die Armen nicht aus den Augen verlor. So jemanden sehe ich im Moment nicht. Einen solchen Moderator würde ich dem Land wünschen, damit dieses Auseinanderdriften, diese massive Trennung der Klassen wieder stärker abgedämpft oder sogar überwunden wird.
Das Gespräch führte Heike Sicconi.