"Hunderttausende Menschen suchen im Müll nach Essensresten. Nach verheerenden Wirbelstürmen, zerstörten Ernten und wachsender Armut infolge der Corona-Pandemie sind Flüchtlingstrecks mit Tausenden Verzweifelten in Richtung Norden unterwegs", konstatiert der Hauptgeschäftsführer des Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat, Pater Martin Maier.
Der Kontinent erlebe in diesen Monaten "einen dramatischen Armuts-Tsunami". Zudem wurde Mittelamerika von zwei verheerenden Wirbelstürmen heimgesucht, die Ernten in Guatemala, El Salvador, Honduras und Nicaragua zerstörten. In einer Art Super-Wahlnovember gibt es nun in gleich fünf Ländern zumindest eine Chance, Weichen für bessere Zukunftsaussichten zu stellen.
Eine Wahl in Nicaragua?
Den Auftakt macht am 7. November Nicaragua. Doch eigentlich steht der Sieger dort schon fest. Präsident Daniel Ortega (75) und seine Lebensgefährtin und Vizepräsidentin Rosario Murillo (70) ließen sämtliche Rivalen, die eine Chance auf einen Sieg gehabt hätten, verhaften und so von der Wahl ausschließen. Laut Umfragen hätte jeder der Inhaftierten wohl die Wahl gegen Ortega gewonnen. Angesichts der aktuellen Umstände ist kaum zu erwarten, dass die EU oder die USA das Wahlergebnis anerkennen werden.
Seit rund drei Jahren steckt das Land in einer schweren innenpolitischen Krise, die mit Studentenprotesten gegen Brandrodung in einem Naturschutzpark begann und mit der blutigen Niederschlagung der zu Sozialprotesten angewachsenen Demonstrationen weiterging. Die Familie Ortega kontrolliert Schlüsselpositionen in Medien und Wirtschaft.
Enttäuscht kommentierten Nicaraguas Bischöfe: "Wir haben eine wertvolle Gelegenheit verpasst, den Kurs unseres Landes zu begradigen und soziale, politische und wirtschaftliche Probleme zu lösen." Statt die Gedankenvielfalt aller gesellschaftlichen Sektoren zu berücksichtigen, seien diese ausgeschlossen worden.
Argentinien wählt neues Parlament
Eine Woche später folgen in Argentinien Parlamentswahlen, bei denen große Teile von Abgeordnetenkammer und Senat neu gewählt werden. Im für die Regierung des linksgerichteten Präsidenten Alberto Fernandez schlimmsten Fall kann das dazu führen, dass sich die Verhältnisse deutlich verändern - und für sie verschlechtern.
Das alles beherrschende Thema ist die Armut im Land. Kirchliche Armenspeisungen seien überfüllt, die Armutsrate auf über 40 Prozent gestiegen, so Adveniat. Der Vorsitzende der Argentinischen Bischofskonferenz, Bischof Oscar Ojea, warnte jüngst, die sich zuspitzende soziale Lage könnte "außer Kontrolle geraten". Das Land sei "am Limit".
Wahlen in Chile
Derweil steht Chile einmal mehr vor einem Politikwechsel. Die Zustimmungsraten für den amtierenden konservativen Präsidenten Sebastian Pinera sind im Keller; die Verfassung verbietet eine erneute Kandidatur. Seit zwei Jahren ist das Land in Aufruhr, Sozialproteste führten bereits zu einem Verfassungskonvent.
Die Umfragen führt der erst 35-jährige Linkspolitiker Gabriel Boric an, einer der führenden Köpfe der Studentenbewegung. Jüngst rief der Erzbischof von Santiago de Chile, Kardinal Celestino Aos Braco, zum Aufbau einer gerechteren, solidarischen Gesellschaft sowie zu einem Umdenken in der Umweltpolitik auf: "Wir müssen auf die Sprache der Natur hören und entsprechend darauf reagieren", sagte er. Und Adveniat betont: Zu gesellschaftlicher Aussöhnung gehöre auch die Anerkennung der Grundrechte der indigenen Völker.
Wichtige Regionalwahlen in Venezuela
Am gleichen Tag wie in Chile (21. November) soll auch in Venezuela gewählt werden. Es sind zwar "nur" Regionalwahlen; doch es wären die ersten, die seit 15 Jahren wieder von offiziellen EU-Wahlbeobachtern begleitet würden. Trotz berechtigter Zweifel an fairen Wahlen forderte Bischof Raul Biord Castillo von La Guaira die Opposition zur Teilnahme auf. In der Vergangenheit waren die Wahlen immer wieder boykottiert worden. "Wer sich nicht beteiligt, hat schon verloren", sagte Biord bei einem Besuch bei Adveniat in Essen.
Den Abschluss des Reigens macht am 28. November Honduras. Dort wird ein Nachfolger für Präsident Juan Orlando Hernandez gewählt, dem die US-Justiz vorwirft, Teil eines Drogenkartells zu sein. Entsprechend verheerend fällt das Fazit der Kirche zur Lage im Land aus: "Unsere Demokratie liegt im Koma", so der Sprecher der Honduranischen Bischofskonferenz, Juan Angel Lopez. Eindringlich warnt die Kirche davor, jenen die Stimme zu geben, die von "Korruption, organisierter Kriminalität und Drogenhandel befleckt sind, die der Bevölkerung so viel Schaden zugefügt haben". Und Pater Maier warnt: Eine Folge krimineller Staatsführung seien Flucht und Migration.