domradio.de: Libyen hat angekündigt, seine Küsten sowie eine Rettungszone im Mittelmeer für ausländische Schiffe zu sperren. Damit können Hilfsorganisationen wie Sie Ihre Rettungseinsätze nicht mehr ausführen. Welche Folgen hat das für die Hilfsorganisationen, die zwischen Italien und Libyen unterwegs sind?
Volker Westerbarkey (Präsident Ärzte ohne Grenzen Deutschland): Viel schlimmer ist, dass wir mit unserem großen Schiff "Prudence" in Sizilien im Hafen liegen und Menschen nicht retten können, die dringend unsere Hilfe brauchen. Wir wissen, dass sich nach wie vor täglich Menschen aus Libyen aufmachen, um den schrecklichen Bedingungen zu entkommen.
domradio.de: Was für Bedingungen sind das? Und was für Menschen fliehen?
Westerbarkey: Das sind Menschen, die lange inhaftiert sind, geschlagen und sexuell missbraucht werden. Es gibt Zwangsarbeit und viele andere ganz schlimme Umstände, aus denen die Menschen versuchen zu entfliehen.
domradio.de: Libyen ist kein funktionierender Staat. Die Regierung in Tripolis hat kaum Macht im eigenen Land. Das stellt sich mir die Frage, wie kommt Libyen an die finanziellen Mittel die eigenen Gewässer und darüber hinaus, so gut zu beobachten?
Westerbarkey: Nicht ganz Libyen ist unter der Kontrolle der Einheitsregierung. Vor allem der Strandabschnitt, an dem die meisten Flüchtlinge sich mit den Booten aufmachen wird von der Regierung kontrolliert. Sie wird von der Europäischen Union unterstützt.
domradio.de: Können Sie da ein Beispiel nennen?
Westerbarkey: Die italienische Marine hat ein Kriegsschiff entsandt, um die libysche Küstenwache bei dieser Aufgabe zu unterstützen, um Menschen, die vor Not und Leid fliehen, dorthin wieder zurückzuschicken. Natürlich fließen auch Gelder aus der Europäischen Union, wodurch sie diese Aktivitäten unterstützen. Die Küstenwache wird für Maßnahmen trainiert, die in keinster Weise mit humanitären Prinzipien übereinstimmen und nur noch zu mehr Leid und zu mehr Toten führen.
domradio.de: Das heißt, Europa trägt eigentlich eine Mitverantwortung daran, dass die Hilfsorganisationen jetzt Ihre Arbeit im Mittelmeer einstellen müssen?
Westerbarkey: Europa trägt eine ganz große Mitverantwortung daran. Wir rufen die Europäische Union auf, die Seenotrettung nicht zu boykottieren, sondern selbst mehr Kapazitäten für die Seenotrettung bereitzustellen.
domradio.de: Wie kann das konkret aussehen?
Westerbarkey: Die Seenotrettungskapazitäten gehören nicht gekürzt oder blockiert, sondern aufgestockt, sodass keine Menschen mehr im Mittelmeer sterben – dem tödlichsten Meer auf dieser Erde. Und dann geht es natürlich auch mittelfristig darum, langfristig Lösungen zu suchen. Das sind politische Lösungen, dass Menschen nicht mehr fliehen. Nicht mehr fliehen müssen. Aber momentan geht es darum, Todesfälle zu vermeiden und Menschen zu retten.
Das Interview führte Milena Furman.